Bis zur Rifkinschen Arbeitswelt ist es noch ein langer Weg. Dennoch spüren die Luxemburger Arbeitnehmer die Folgen der Digitalisierung

Mit Laptop und Smartphone

d'Lëtzebuerger Land du 17.11.2017

Wie die Digitalisierung die Arbeitswelt verändert, kann man im Supermarkt beobachten. Beispielsweise in den Filialen von Delhaize und Cactus im Hauptbahnhofsviertel in Luxemburg-Stadt. Statt auf Kassiererinnen setzt Delhaize darauf, dass die Kunden den Barcode ihrer Einkäufe selbst scannen und am Automaten die Rechnung zahlen. Ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin hilft überforderten Einkäufern an mehreren solcher Kassen gleichzeitig, statt dass eine Arbeitskraft pro Kasse notwendig ist. Beim Konkurrenten Cactus übernehmen noch Mitarbeiter das Einscannen der Waren auf dem Band, doch den Bezahlvorgang müssen die Kunden an einem Kassenautomaten selbst erledigen. Verschwindet, wenn sich diese Entwicklung fortsetzt, irgendwann der Beruf der Kassiererin ganz?

Eines muss man dem Autor und Fortschrittsprediger Jeremy Rifkin lassen: Die Debatte über die Folgen der Digitalisierung auf den Arbeitsmarkt hat an Fahrt gewonnen, seit ihn die Regierung zusammen mit der Handelskammer engagiert hat, um seine „dritte industrielle Revolution“ in Luxemburg umzusetzen, die darauf hinausläuft, dass ein Großteil der Arbeitnehmer durch Rechner und Maschinen und artifizielle Intelligenz ersetzt werden. Nicht etwa, weil in seinem Bericht Konkretes über diesen Prozess und die sich aufdrängenden Reformen im Arbeits- und Steuerrecht sowie der Sozialversicherung gestanden hätte. Im Gegenteil: das fehlte. Aber eine gewisse Panik kam auf jeden Fall auf.

Gestützt wurde diese Arbeitsweltuntergangsstimmung durch eine Studie zweier Wissenschaftler aus Oxford, die bereits 2013 die Frage stellten: The future of employment: how susceptible are jobs to computerisation? Carl Benedikt Frey und Micheal A. Osborne befanden, fast die Hälfte aller Jobs könnten der Digitalisierung zum Opfer fallen. Das sehen andere Wirtschaftswissenschaftler inzwischen nuancierter, die glauben einzelne Aktivitäten könnten verschwinden, aber keine ganzen Branchen und Berufsstände. Wobei es weiterhin schwierig bleibt, beim Blick in die Zukunft überhaupt von Wissenschaft zu reden.

Die Lohnabhängigenkammer (CSL) hat, zusammen mit Wissenschaftlern der Uni Luxemburg und dem Markt- und Sozialforschungsinstitut Infas im Rahmen ihres Berichts über die Arbeitsqualität in Luxemburg versucht, den Istzustand zu erheben. Wie digitalisiert ist der Arbeitsmarkt hierzulande und welche Folgen hat das für die Arbeitnehmer?

Trotz Rifkin-Debatte scheinen sich die Arbeitnehmer in Luxemburg bisher wenig beeindrucken zu lassen. Denn nur sieben Prozent der rund 1 500 Teilnehmer an einer für heimischen Arbeitsmarkt repräsentativen Studie sehen ein hohes oder mittelhohes Risiko, dass sie vom technologischen Fortschritt überholt werden könnten und deshalb ihren Job verlieren. Das Bewusstsein für die Risiken der Digitalisierung ist je nach Berufsgruppen unterschiedlich hoch. Am meisten geschärft ist der Sinn für die Gefahr mit 15 Prozent bei denjenigen, die Maschinen und Installationen bedienen – denen, die wahrscheinlich Angst haben, dass sich die Maschine irgendwann selbst bedient – und mit elf Prozent beim Management und Führungspersonal, das Debatten wie die über den Rifkin-Prozess verfolgt.

Dabei stellt sich heraus, dass der tatsächliche Digitalisierungsgrad den Befürchtungen durch Roboter ersetzt zu werden, hinterherhinkt, zumindest was erstere Gruppe betrifft. Den von den Befragten, die tatsächlich Maschinen bedienen, sagen nur elf Prozent, dass sie in hohem bis sehr hohem Maße von der Digitalisierung betroffen sind. Ob es daran liegt, dass Luxemburger Unternehmen nur wenig in neue Anlagen investieren, kann David Büchel, Arbeitspsychologe der CSL, der die Erhebung des Indexes zur Arbeitsqualität koordiniert, nur mutmaßen. Aber, hebt er hervor, neue, digital gesteuerte Produktionsanlagen müssten sich für die Betriebe lohnen. „Man stelle sich vor, was es kostet, ein völlig neues Stahlwerk zu bauen“, statt ein bestehendes mit älterer Technologie weiterzubetreiben.

So sind es momentan vor allem die Beschäftigten in den mittleren bis oberen Karriererängen und mit hohem Bildungsgrad, die den Einfluss der Digitalisierung in ihrem Berufsalltag spüren: Rund die Hälfte stellt dies in hohem bis sehr hohem Maße fest. Das liegt auch daran, dass unter den weitgefassten Begriff der Digitalisierung schon der Einsatz von Computern, Smartphones und Scannern fällt.

Das scheint heute selbstverständlich, hat aber längst nicht nur positive Folgen. Denn wie die Ergebnisse der Befragung zeigen, steigt mit zunehmendem Digitalisierungsgrad auch die Belastung der Arbeitnehmer. Zwar glauben 42 Prozent derjenigen, die in ihrem Alltag häufig auf technische Hilfsmittel zurückgreifen, ihre Arbeitsleistung werde dadurch gesteigert; sie würden also produktiver. Aber über 65 Prozent von ihnen meinen außerdem, ihre Fähigkeiten ständig weiterentwickeln zu müssen. Über 54 Prozent von ihnen sagen zudem, dass sie aufgrund der Digitalisierung dauernd neue Aufgaben erledigen müssen. Und knapp 38,5 Prozent berichten, dass durch den Einsatz von Rechnern, intelligenten Telefonen und Maschinen, die Kontrolle am Arbeitsplatz zugenommen habe.

Dass es manchmal doch schon eine Prise Rifkin in Luxemburger Unternehmen gibt, zeugen die Aussagen von Vertretern der Adem im November 2016 bei der Veranstaltung Die Digitalisierung der Arbeitswelt, die im 10. Bericht der interregionalen Arbeitsmarktbeobachtungsstelle an den 15. Gipfel der Exekutiven der Großregion festgehalten sind. „Zahlreiche Teilnehmer berichten von ihnen bekannten oder selbst erlebten Situationen, in denen digitale Instrumente auf eine exzessiv erscheinende Weise genutzt werden, um das Personal zu kontrollieren“, heißt es darin. „Ein Fall betrifft die Angestellten eines Finanzinstituts in Luxemburg. Diese müssen ihre Computermäuse alle 15 Minuten betätigen, um ihre Anwesenheit vor dem PC zu bestätigen.“ Ein weiterer Fall betrifft „ein luxemburgisches Unternehmen, in dem alles überwacht wird (was so zu verstehen ist, dass alles aufgezeichnet wird). Bei der Einstellung, vor Unterzeichnung des Arbeitsvertrags, fragt der Arbeitgeber den Bewerber ausdrücklich, ob ihn dieses Verfahren der Aufzeichnung störe. Man kann sich nur schlecht einen Bewerber vorstellen, der diese Frage bejaht.“

Aus der Umfrage von CSL, Uni und Infas schließen die Auftraggeber, dass der mentale Druck auf die „digitalisierten“ Arbeitnehmer besonders hoch ist. Über zwei Drittel von ihnen geben an, ihre Arbeit sei mental sehr fordernd während dies bei den „wenig digitalisierten“ nur 43 Prozent sagen. 71 Prozent der ersten Gruppe sehen sich oft oder immer hohem Zeitdruck ausgesetzt, während es bei in der zweiten Gruppe nur 41 Prozent sind. Die Hälfte Ersterer sagt, oft oder immer ihre Emotionen im Zaum halten zu müssen, während das nur 31 Prozent Letzterer meinen. Vielleicht hängt das aber nicht nur mit dem Digitalisierungsgrad zusammen, sondern damit, dass viele „Digitalisierte“ Akademiker sind und Posten mit mehr Verantwortung besetzen, wo der Leistungsdruck ohnehin hoch ist. Doch die Umfrage ergab auch, dass Arbeitnehmer, die viel auf digitale Arbeitsinstrumente zurückgreifen, mehr Überstunden leisten und häufiger Probleme haben, eine klare Trennung zwischen Arbeitsleben und Privatleben zu ziehen. „Entgrenzung“ heißt das in der Fachsprache, wenn die Arbeit statt nach Feierabend im Büro zu bleiben, mit dem Laptop nach Hause genommen wird und noch im Urlaub am Strand oder auf der Skipiste auf dem Smartphone Arbeits-E-Mails beantwortet werden. Ein Fünftel der „hoch digialisierten“ hat häufig oder ständig Probleme, Berufs- und Privatleben zu vereinbaren, während nur 15 Prozent der weniger „digitalisierten“ Arbeitnehmer dies feststellen. Dennoch finden 60 Prozent aller Befragten, egal ob digitalisierungsbetroffen oder nicht, ein „Recht auf Nichterreichbarkeit für dienstliche Dinge nach Feierabend“ wichtig.

Im Zwischenbericht des Wirtschafts- und Sozialrats (CES) Le modèle économique, social et sociétal luxembourgeois dans les mutations technologiques in dem die Sozialpartner gemeinsam zum Rifkin-Bericht Stellung beziehen sollen, und der vergangene Woche veröffentlicht wurde, sucht man noch vergeblich nach Hinweisen, wie der Gesetzgeber auf diese Entwicklung reagieren will. Ob es ein Recht auf Abschaltung geben soll? Wie sich die Digitalisierung überhaupt auf die Arbeitsprozesse auswirkt? Wie das Sozialversicherungswesen betroffen sein wird? Wie das Schulwesen reagieren muss und die Weiterbildung angepasst werden soll? Dazu haben Handels-, Arbeitnehmerkammer und Arbeitsministerium bei Institut für Sozialforschung und Sozialwirtschaft und beim Zentrum für europäische Wirtschaftsforschung eine Studie in Auftrag gegeben, deren Ergebnisse gegen Jahresende vorliegen sollen.

Bei der Veranstaltung Die Digitalisierung der Arbeitswelt im vergangenen Jahr stellte sich ganz konkret heraus, dass die Antworten nicht einfach sind. Bei den französischen Arbeitsämtern, wurde berichtet, müssen die Anmeldeformulare online ausgefüllt werden, was vor allem denjenigen Problemen bereitet, die wenig Kenntnisse im Umgang mit Computern haben, also von der Digitalisierung überholt sind. Das führt dazu, dass Mitarbeiter der Arbeitsämter den Arbeitslosen, die dort vorstellig werden, bei der Anmeldung am Rechner behilflich sein müssen. In etwa so, wie Supermarkt-Mitarbeiter den Kunden beim Kassieren am Automaten helfen müssen...

Michèle Sinner
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