Amela Skenderović fragt Schülerinnen im ersten Stockwerk, ob noch ein Klassensaal frei sei. Nein, nicht im ersten. Wir laufen ein Stockwerk höher und dabei beginnt die Englischlehrerin an diesem Montagnachmittag ihre Eindrücke vom technischen Lyzeum in Esch-Lallingen mit denjenigen vom Wirtschaftsgymnasium ECG zu vergleichen, wo sie jetzt seit einem Jahr unterrichtet. „Schüler aus sozioökonomisch schwächeren Haushalten haben viel ausgeprägtere Selbstzweifel.“ In Esch seien diese mit den Händen zu greifen gewesen. Morgen hat ihre Abschlussklasse Abi-Klausur in Englisch. „Auf dem Programm stehen dieses Jahr Kurzgeschichten und politische Texte, die von Massentierhaltung, Transport und Konsum handeln.“ Für die Schüler sei es aufregend, ihre Lehrerin auf Plakaten abgebildet zu sehen. Sogar politisch kaum interessierte Jugendliche kämen auf sie zu, und fragten beispielsweise, weshalb Europa von dem russischen Angriff auf die Ukraine betroffen sei. „Ploe mer eis do net mat Problemer vun aneren?“, wollten sie wissen. Ihr gefalle es als Politikerin „no un de Leit ze sinn“. Durch den Kontakt zu Jugendlichen, „weiß ich, was sie beschäftigt, wie beispielsweise länderübergreifende Zugverbindungen“. Skenderović habe jedoch auch rechtspopulistische Haltungen in puncto Gender- und Migrationsfragen festgestellt, nicht selten unter Schülern mit Migrationshintergrund.
Die DP sei die Partei, die am resolutesten eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik verfolge. Europa verliere gerade an Gewicht auf der internationalen Bühne, man solle militärisch vereinter auftreten, verteidigt Amela Skenderović den Standpunkt der DP Mitte Mai im „5-Froen-un“ auf RTL-Tëlé. Ihr Gesicht und schwarzen Haare flimmern über den Bildschirm; die 28-Jährige war bis vor den Europawahlen außerhalb von Esch-Alzette, wo sie an den Gemeindewahlen teilnahm und Drittgewählte wurde, kaum bekannt, – nun urteilt die stets Blazer und Walkjacke tragende Englischlehrerin landesweit über EU-Politik. Immer wieder verweist sie in Interviews auf ihre Familiengeschichte. So auch im Gespräch mit dem Land, indem sie ihre Affinität zur liberalen Partei 0herleitet. „Freie Meinungsäußerung und Obrigkeitskritik waren unvorstellbar unter dem sozialistischen Regime in Jugoslawien.“ Liberale Politik setze sich für die Rechte von Individuuen ein.
„Meine Eltern sind Bosniaken, die im ländlichen Norden von Montenegro lebten.“ Sie gehörten der sunnitischen Minderheit in dem mehrheitlich serbisch-orthodoxen Land an. Während des Zerfalls der sozialistischen Republik Jugoslawien begannen Orthodoxe, die katholischen und muslimischen Minderheiten zu unterdrücken, weshalb ihre Eltern flohen. Religion sei für sie eine private Angelegenheit; sie sei für die Trennung von Religion und Politik. „Ich bin keine praktizierende Muslimin, esse allerdings kein Schweinefleisch und feiere muslimische Feste.“ Wie Iftar, das muslimische Fastenbrechen, das dieses Jahr auf den 21. März fiel; es war das erste größere Event, dass die Plattform Fata organisiert hat; eine Plattform, die Skenderović vor fünf Monaten gegründet hat. Sie richtet sich an Frauen vom Balkan, unabhängig ihrer Religion und ethnischer Herkunft. „Fata ist ein Spitzname für Fatima. Die Wortwendung steht für eine von ihrem Mann unterdrückte Frau. Wir wollen uns dieses Narrativ aneignen, um es neu zu deuten und um auf Femizide hinzuweisen.“
Am Montagmorgen wurde Amela Skenderović von unterschiedlichen Schülern auf ein anderes politisches Thema angesprochen. Der Influencer Almin Hrkic hatte einen Aufruf an die Parteien verschickt, um sich gegenüber dem Gaza-Krieg zu äußern. „Verübt Israel ein Genozid in Palästina“ und „was muss passieren, damit ihre Partei Sanktionen gegenüber Israel beschließt“, wollte er wissen. Auf seiner Instagram-Seite Mood-Luxembourg schaltet er ein Video, in dem er behauptet Amela Skenderovic hätte Position beziehen wollen, sei aber von ihrer Partei daran gehindert worden. Gegenüber dem Land sagt die DP-Politikerin, mit ihrer Partei habe sie gemeinsam entschieden, dass man nicht in einer Minute – wie die Vorgabe lautete – auf die gestellten Fragen eingehen könnte. Etwa 350 000 mal wurde der Beitrag von Mood-Luxembourg gesichtet. Die Englischlehrerin vernahm, dass Schüler am ECG aufgrund des Videos von der DP enttäuscht sind, die Partei sei für sie nun unwählbar.
Es war nicht der erste öffentliche Trubel um die junge Politikerin. In einem Zustand emotionaler Ungehaltenheit, nachdem eine DP-CSV-Mehrheit die Motion zur Anerkennung des Staates Palästina Mitte Mai ablehnte, habe sie sich zu dem Instagram-Post „Shameful. Not in my name“ hinreisen lassen, erläutert sie. Den Post hat sie noch am gleichen Tag wieder gelöscht. Sie sehe eine Parallele zwischen dem Mord an mehr als 8 000 Bosniaken durch mehrheitlich serbische Kampfeinheiten in der Nähe von Srebrenica im Juli 1995 und dem aktuellen Geschehen in Gaza. Zivilgesellschaftlich ist sie bei dem Srebrenica Genocide Committee Luxembourg engagiert und hielt unter anderem einenVortrag über Vergewaltigungen während des Bosnienkrieges. Man könne nicht zusehen, wie in Rafah Menschen getötet werden. „Datt mer dat Dag fir Dag quasi live matverfollegen, hëlt d’Leit mat“. Auch für Almin Hrkic gilt Srebrenica als Referenzrahmen – „unsere Eltern sind vor einem Genozid geflüchtet“, und die Spitzenkandidatin Skenderović müsse „jetzt zuschauen und den Mund halten“. Er spielt dabei zugleich darauf an, dass ihr Co-Spitzenkandidat Charles Goerens gegenüber dem Wort den Post folgendermaßen kommentierte: „Bei der jungen Generation ist viel Ungeduld“, sie „verstehen nicht“, weshalb keine Lösung in Sicht sei und bei „komplexer Diplomatie“ würden junge Menschen „abschalten“. Grünen-Politikerin Sam Tanson schreibt dazu auf X „haarsträubenden Mansplaining vum DP Spëtzekandidat“. Die Journalistin Ines Kurschat, aus dessen Feder der Artikel stammt, antwortet der grünen Abgeordneten, im Austausch habe sie den EU-Abgeordneten nicht als „herablassend“ erlebt, wie Tanson „suggeriere“, wenngleich sich seine Aussagen auf Papier als „gutväterlich“ lesen mögen.
Im RTL-Kloertext auf Goerens Aussagen angesprochen, sagt Amela Skenderović, sie bedauere, dass die Opposition die „Polemik des alten weißen Mannes aufgegriffen“ habe, statt den Fokus auf das Thema zu lenken. Vielleicht um den Verdacht zu zerstreuen, sie sei lediglich ein Anhängsel, eines Politikers, der bereits 1982 erstmals im EU-Parlament saß, fügt sie hinzu: „Ich kann aus Erfahrung sagen, dass ich auf Augenhöhe mit Charles Goerens zusammenarbeite und meine Meinung beachtet wird.“ Denn man könnte vermuten, die DP-Spitze habe auf sie eingewirkt, um den Post zu löschen. Das verneint Skenderović; „an där Branche hei“ solle man seine Emotionen nicht gleich „externalisieren“, ihre Ausdrucksform schien ihr plötzlich nicht mehr angebracht. Tatsächlich aber sagt sie zugleich: „Et fäert een och als jonk Politikerin, wann een enger aner Meenung ass, et fäert een ee schlechten Impakt op eis Europa-Ekipp.“
Am Montagabend hatte die DP auf ihren Wahlabend ins Mamer-Schloss geladen. Etwa 60 Personen sind gekommen, – die Hälfte von ihnen grauhaarig, zehn im berufstätigen Alter mit Kopfhörern für die Übersetzung – und hörten dem frei vortragenden DP-Außenminister Xavier Bettel zu. Seine Charme-Offensive sollte vor allem auf die Perspektiven abzielen, die Europa eröffnet: „Ich habe in Griechenland studiert, und als ich damals nach Bulgarien fuhr, wurde mein Auto für 5 D-Mark an der Grenze desinfiziert – stellen Sie sich das mal vor!“ Ob man Mann oder Frau ist, Jude, Muslim oder Christ jeder sollte den gleichen Bildungszugang erhalten. Er schwenkt dabei über zu Amela Skenderovićs Biografie: „Ihre Eltern mussten wegen eines Bürgerkrieges flüchten.“ Sie wisse, was es heiße, gegen Vorurteile anzukämpfen. Und weil die Opposition munkelt, in der DP bestehe keine Einigkeit gegenüber dem Israel-Palästina-Konflikt, sagt er: „A wa verschidde Leit mengen, an dëser Partei wiere mer eis net eens – mir sinn eis eens, datt dat wat a Palästina geschitt net akzeptabel ass!“ Um in einem emotionalen Tonfall zum jetzigen Zeitpunkt die Anerkennung Palästinas auszuschlagen: „An dofir, wa verschidde Leit mengen, datt am Resumé d’Unerkennung vu Palästina eppes ging änneren, gleeft mer, de Fraen a Kanner am Gaza ass dat esou laang wéi breet: Si hätte gär Fridden.“
Xavier Bettel unterstreicht am Montag auch die markanten Merkmale der weiteren fünf EU-Kandidaten. Der 30-jährige Christos Floros sei ein „Produkt der europäischen Vielfalt“, dem Publikum rät er, das kulturelle Programm in Esch/Alzette in Anspruch zu nehmen, welches man der Kandidatin Nancy Braun zu verdanken habe. „Eist Jana“ (Degrott) wisse durch ihren Bruder aus nächster Nähe, wie schwer es sei mit einer neurologischen Normabweichung gleichberechtigt leben zu dürfen. Gusty Graas denke seinerseits regional und europäisch. Und Charles Goerens fahre mit Schulklassen nach Auschwitz, damit der Holocaust nicht in Vergessenheit gerate. Überhaupt grenze sich die DP konsequent von Rechtspopulisten ab: „Léiwer net matmaachen, wéi mat engem Däiwel eppes ze ënnerschreiwen!“ Es folgt eine Art Standing Ovation im Sitzen auf diese Schlussworte von Bettel. Die DP-Abgeordnete Corinne Cahen steht hinten im Saal, schießt Fotos und postet auf Facebook: „Struppevolle Sall op onser Walversammlung.“
Anschließend moderiert der DP-Abgeordnete Luc Emering als Stichwortschleuderer ein Gespräch mit den Kandidaten. Sieht die Co-Spitzenkandidatin Beitrittschancen für Montenegro, fragt Emering. Das Land käme aus einer turbulenten Zeit und weise Korruptionsprobleme auf, führt sie aus. „Aber da es am Mittelmeer liegt, wäre sein Beitritt geopolitisch nicht uninteressant.“ Außerdem wurde vor kurzem ein liberaler Präsident gewählt; als dieser vor acht Monaten in Luxemburg war, „hatte er das Glück, Gusty Graas kennenzulernen“, sagt sie, woraufhin sich allgemeines Gelächter in Mamer breit macht. „Jedenfalls hat Gusty einen guten Eindruck bei ihm hinterlassen, hat er mir gesagt.“ Weil der ehemalige „Klimapremier“ in seiner Rede den Klimawandel außen vor ließ, fragt Luc Emering, wie Gusty Graas die Klimaskeptiker in der Chamber erlebe. Graas erinnert sich, dass er einst in den 1990-er-Jahren in den eigenen Reihen zunächst auf Klima-Desinteresse stieß, als er mit seinem DP-Kollegen Mil Calmes „grünes Denken“ in die DP bringen wollte, – man habe sie die „Müsli-Fraktion“ genannt. Heute sei er in puncto Klimaschutz „stolz“ auf das EU-Wahlprogramm.
Politisiert hat sich Amela Skenderović während des Brexits. England habe sich selbst ein Bein gestellt mit dem Austritt aus der EU; mit der Wirtschaft laufe es nicht rund und die Jugend sei vom europäischen Festland abgeschnitten worden, analysiert sie. Als sie während der Covid-Pandemie wieder nach Schifflingen umsiedelte, nahm sie der DP-Gemeindepolitiker und BIL-Angestellte Jeffrey Drui mit auf eine Versammlung der lokalen Sektion. Mit der Arbeit der DP habe sie seit Jahren sympathisiert. Einige ihrer Freunde waren bereits in der Partei, bevor sie 2021 schließlich selbst Mitglied geworden ist. „Und dass ich jetzt hier stehe, habe ich Carole Hartmann zu verdanken.“ Die DP-Generalsekretärin habe sich für Amela Skenderović eingesetzt, obwohl sie noch keine Abgeordnete ist. Als Frau würden einem oft Steine in den Weg gelegt werden, „oft auch von anderen Frauen, die sich in einem Konkurrenzkampf sehen“, führt sie aus. Aber Carole Hartmann sei anders; sie höre zu und unterstütze Newcomerinnen.
Davor war sie eher „a menger Bicherwelt“. Sie habe sich überwiegend mit postkolonialen Autoren befasst, wie dem südafrikanischen Literaturnobelpreisträger John Coetzee, über den sie ihre Abschlussarbeit verfasst hat. Edward Said habe sie gelesen und finde seine Orientalismusthese „interessant“. Bereits in ihrer Kindheit hat sie gerne gelesen: „Wie viele habe auch ich Harry Potter verschlungen“, erinnert sie sich. Heute beherrscht sie sechs Sprachen, unter anderem Spanisch und Bosnisch; Grundkenntnisse besitzt sie in Arabisch, Holländisch und Portugiesisch. „Ech sinn eigentlech ee Schëfflenger Meedchen“, sagt sie. Dort ist sie als Zweitälteste mit vier Geschwistern aufgewachsen. Ihr Vater war Lastwagenfahrer, ihre Mutter hat zeitweise als Reinigungskraft gearbeitet. Den Eltern war der Bildungsaufstieg wichtig; sie schickten ihre Kinder in den Bicherbus, zur Lasep und die Vakanzenaktivitéiten.
Während des Studiums begann sie sich mit dem Nahen Osten zu beschäftigten. Den Oman und Jordanien habe sie bereist; im September war sie in Jerusalam, „eine der schönsten Städte der Welt“. Der Konflikt im Nahen Osten hat sich nun dem Europawahlkampf aufgedrängt – eine Entwicklung, die die Parteien während der Vorbereitung ihres EU-Wahlkampfes wohl unterschätzt haben. Anne Lecuit von Fokus erläuterte im RTL-Background vor einer Woche, in Schulen erlebe sie an Rundtischgesprächen, dass dieser Krieg die Jugend „extreem mathëlt“. Selbst nach Abschluss der offiziellen Debatte wurden die EU-Kadidaten von Schülern umzingelt, um das Gespräch über den Konflikt im Nahen Osten weiterzuführen. Am Montag gegen Ende der Wahlversammlung fragt eine aus Korea stammende Amerikanerin mit Tränen in den Augen, wie es sein könne, dass die DP die Handelsabkommen mit Israel nicht infrage stelle, „denn Israel hat eine undemokratische, faschistische Regierung“. Nehme Europa die Menschenrechte überhaupt noch ernst?
Außenminister Bettel nimmt das Mikrofon und antwortet auf Englisch, „damit die Fragestellerin jedes Wort versteht“. Nun steht nicht mehr der No-bei-Dir-Bettel im Raum, sondern ein Außenminister, der vorgibt internationale Reichweite zu genießen: Er habe am Nachmittag einen Brief an Ursula von der Leyen geschickt, um zu sehen, ob der Rechtsdienst der Kommission mit Juristen aus Israel diese Woche zusammen kommen könnte. „And if the Israeli do not want to accept the decision of the ICJ, I said it in Brussel, I said it in Israel, and I say it today in Mamer, it will not be not without consequences.“ Man dürfe nicht nur bellen, man müsse auch beißen. Die Amerikanerin, die Unterrichtsmaterial auf Englisch erstellt, ist mit einer Freundin, einer Finanzberaterin, nach Mamer gekommen. Werden sie noch an anderen Wahlabenden teilnehmen? „Ja, wir werden unsere Frage an jede Partei richten.“ Der Palästina-Konflikt ist für die beiden wahlentscheidend? „Ja, wir werden unsere Wahl davon abhängig machen.“