ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Der tote Fisch

d'Lëtzebuerger Land du 11.08.2023

Vor einigen Tagen verbreitete die CSV auf Facebook ein Foto ihres Spitzenkandidaten: Luc Frieden blickt in die Kamera und hält mit beiden Händen einen toten Fisch. „What have we here? a man or a fish? dead or alive? A fish: he smells like a fish; a very ancient and fish-like smell“ (Shakespeare, The Tempest, II.2). Der Fisch war wahrscheinlich ein Atlantischer Lachs.

Ganze Kerle halten sich für Captain Ahab. Sie lassen sich mit toten Fischen fotografieren. Nach heroischem Kampf haben sie die Kolosse aus dem Wasser gezogen. Sonntagsangler posieren mit gewaltigen Hechten und riesigen Karpfen. Hemingway grinste neben mannsgroßen Kadavern von Roten Thunfischen, Blauen Marlinen und Kurzflossigen Mako-Haien.

Luc Frieden hat den Lachs nicht aus dem Wasser gezogen. Der Geschäftsführer einer Sandweiler Fischhandlung hat ihn aus der Kühlbox gezogen. Der Geschäftsführer hilft dem Spitzenkandidaten, den toten Fisch in die Kamera zu halten. Luc Frieden lacht. Als wollte er sagen: „Hey, seht mal! Ich habe einen toten Fisch!“

Ihm geht es nicht um Hemingways Macho-Gehabe. Dafür ist der Fisch zu klein. Ihm geht es um eine politische Tribüne. Konkurrierende Spitzenkandidaten haben ihre politischen Mandate als Tribünen. Ohne Mandat darf Luc Frieden nicht wählerisch sein.

Er ist der Mann der Verwaltungsräte im Dachgeschoss eines Bürogebäudes. Der Cocktailempfänge im Kellergeschoss der Handelskammer. Damit sind keine Wählerinnenstimmen zu gewinnen. Die Wahlkampforganisatoren der Partei verschreiben ihm Volksnähe. Er besucht ein Fischgeschäft. Das ist ihm schon ziemlich volksnah. Bis dahin kannte er vielleicht den Fischhändler Ordralfabétix aus Astérix.

Luc Frieden bietet dem globalen Finanzkapital seine Dienste an. Volksnähe ist für ihn der Mittelstand. Die kleinen Leute als Kleinunternehmer. Die CSV will sie nicht der DP überlassen. Unter dem Foto mit dem toten Fisch steht: „Déi kleng a mëttel #Betriber sinn d’Häerzstéck vun eiser Ekonomie. Ech wëll den administrativen Opwand fir d’Betriber ëm 20% reduzéieren.“

Etienne Scheider klagte, dass angehende Politiker jahrelang Grillfeste besuchen müssen. Bevor sie gewählt werden und ihre Talente unter Beweis stellen dürfen. Wenn dem ehemaligen LSAP-Minister schon Bratwürste eine Zumutung waren – was hielte er von toten Fischen?

Tote Fische sind kalte, glitschige, streng riechende Waren. Die Kollektivverträge von Supermärkten gewähren Fischverkäuferinnen Schmutzprämien. Luc Frieden hasst es, sich die Hände schmutzig zu machen. Nicht wie Lady Macbeth. Eher wie der Bürgersohn Hugo: „C’est le reste qui te fait peur. C’est ce qui pue à ton petit nez d’aristocrate“ (Sartre, Les mains sales, S. 209). Nicht aus Schuldgefühl hasst Luc Frieden schmutzige Hände. Sondern aus dem Klassendünkel eines Geschäftsanwalts.

Sich die Hände schmutzig zu machen, heißt, mit den Händen zu arbeiten. CSV und LSAP empfanden die Arbeiterklasse als hinderlich. 2008 wollten sie sie ein für alle Mal beseitigen. Sie schufen im Statut unique das Wort „ouvrier“ ab. Amtlich heißen Arbeiter nun: „salariés exerçant une tâche principalement manuelle“.

„Die Scheidung zwischen Kopf- und Handarbeit“, schreibt Alfred Sohn-Rethel, „ist von ähnlich unentbehrlicher Bedeutung für die bürgerliche Klassenherrschaft wie das Privateigentum an den Produktionsmitteln“ (Geistige und körperliche Arbeit, Frankfurt/M., 1970, S. 45). Luc Frieden bewirbt sich als Verweser dieser Herrschaft. Dazu muss er sich zuerst von ihr distanzieren. Um das Vertrauen der Wählerschaft zu gewinnen: Er muss sich die Hände schmutzig machen.

Wer sich 2013 zu fein war für das Fegefeuer des Parlaments, muss 2023 durch die Eishölle eines Fischgeschäfts. Um kalte, glitschige, streng riechende Fischkadaver anzufassen, musste Luc Frieden seine innerste Hemmung überwinden. Als wollte er in die Kamera sagen: „Hey, seht mal! Ich bin mir für nichts mehr zu schade.“

Romain Hilgert
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