ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Rue de la Grève

d'Lëtzebuerger Land du 07.07.2023

Am Samstag trat die neue Verfassung in Kraft. Ihr Artikel 28 sieht alt aus. Er enthält den Satz: „La loi organise l’exercice du droit de grève.“

Neun von zehn Erwerbstätigen arbeiten gegen Lohn. Streik ist die gemeinsame Unterbrechung des Verkaufs der Arbeitskraft. Um den Verkauf zu einem höheren Lohn, zu besseren Bedingungen wieder aufzunehmen.

Das Arbeitsgesetzbuch verlangt in Artikel 124-11, dass Streiks „légitimes et licites“ sind: Richter sollen entscheiden, ob Fabrikarbeiterinnen und Hilfspfleger unvernünftig viel verlangen. Die Richter verdienen das Fünffache.

Die Autoren der Verfassung verbriefen Rechte. Das Streikrecht erwähnen sie bloß. Etwas widerwillig räumen sie seine Existenz ein.

Denn Streik ist ein kollektiver Angriff auf das Unterordnungsverhältnis. Der „lien de surbordination“ ist eine Voraussetzung der Lohnarbeit. Diese ist das Herzstück der herrschenden Wirtschaftsweise.

Streik steht im Widerspruch zur reibungslosen Kapitalverwertung. Zum Bild einer Volksfamilie großzügiger Arbeitgeber, dankbarer Arbeitnehmerinnen. Im Widerspruch zur Werbung für den sozialen Frieden als Standortfaktor.

Erst 1948 wurde die Gewerkschaftsfreiheit in die Verfassung geschrieben. Der Staatsrat verhinderte die Erwähnung des Streikrechts. Denn es „risque de saper, dans ses conséquences logiques, les droits les plus essentiels de l’État“ (Avis, S. 215). Erst 2007 hieß es in Artikel elf: „La loi garantit les libertés syndicales et organise le droit de grève.“

Die neue Verfassung bietet keine rechtliche Verbesserung. Bloß eine stilistische. Der parlamentarische Ausschuss behauptet: „Le droit de grève est également garanti par la Constitution“ (603027, S. 40). Das ist Irreführung. Die Verfassung gewährleistet die Gewerkschaftsfreiheit. Ob das Streikrecht darunterfällt, müssen Gerichte entscheiden. 1950 sagte das Schiedsgericht des Kantons Luxemburg nein, 1959 der Oberste Gerichtshof ja...

Die Verfassung gewährleistet das Streikrecht nicht ausdrücklich. Sie tritt es an das Gesetz ab. Damit das Gesetz die Ausübung des Rechts „organisiert“. Gesetze gewährleisten keine Rechte. Sie schränken sie ein.

Im Oktober 2012 schlug déi Lénk im Verfassungsausschuss den halbherzigen Satz vor: „La loi garantit l’exercice du droit de grève.“ Das ging den anderen Parteien zu weit.

Gewährte die Verfassung ausdrücklich das Streikrecht, wäre es gegenüber dem Gesetz gestärkt. Ziel ist seine gesetzliche Einschränkung: Erlaubt ist ein Streik nach gescheiterten Kollektivvertragsverhandlungen. Dann verzögert oder vereitelt das Nationale Schlichtungsamt ihn. Während der Laufzeit des Kollektivvertrags gilt Streikverbot.

Andere Streikformen sind verboten: spontane Arbeitsniederlegungen, Warnstreiks, Bummelstreiks, Schwerpunktstreiks, Betriebsbesetzungen, Solidaritätsstreiks, wilde Streiks, Generalstreiks, Massenstreiks. In Luxemburg, Differdingen und Straßen gibt es eine Rue de la Grève. Im Andenken an den Streik von 1942 gegen die Zwangsrekrutierung. Nach der Befreiung verbot der Oberste Gerichtshof 1952 politische Streiks.

2023 wollten die maßgeblichen Parteien das Streikrecht nicht zu einem eigenständigen Verfassungsrecht erheben: Die CSV ist gegen jede Form der Selbstbestimmung. Die DP verteidigt die Gewerbefreiheit der Unternehmer. Die LSAP will im Namen einer sprachlosen Arbeiterklasse sprechen. Die Grünen verwechseln soziale Fragen mit Sozialarbeit.

Die hohe Produktivität erlaubt Klassenkompromisse. CSV und DP, LSAP und Grüne halten Arbeitskämpfe für überflüssig. Sie schufen mit Verfassungsartikel 39 einen neuen Staatsauftrag: „L’État promeut le dialogue social.“ Damit wollen sie das Streikrecht unter den Tripartite-Teppich kehren. Aus Angst vor der Commission de Venise tun sie es nicht: Die neue Verfassung muss ein demokratisches Triple-A einspielen.

Romain Hilgert
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