Es ist so ein schöner Maiabend, es regnet nicht mal, das Wiener Rathaus schillert in diversesten Farben und alle möglichen Geräusche sind ausgebrochen und viele, sehr, sehr viele sind gekommen. Immerhin wird Die freie Republik Wien ausgerufen, im Rahmen der Wiener Festspielwochen, wie das auf langweilig heißt. Plakate zieren die Stadt, auf denen Augenpaare aus lustig bunten Sturmhauben, wie man sie auf alternativen Kaffeekränzchen strickt, lugen oder auf denen bunte Sturmhaubenträger*innen einander küssen. Das finden nicht alle wirklich passend, aber zum wirklichen Schockiertsein reicht es auch nicht. Die Zeiten, in denen motivierte Landwirte die gottlose Landeshauptstadt heimsuchten um ihre Mistfuhren vor dem Burgtheater zu deponieren, weil dort Heldenplatz von Thomas Bernhard gespielt wurde und sie dieses Spielen ernst nahmen, sind passé. Kunst, gähn, darf längst alles! Auch wenn die Rechte noch so pseudo-hyperventiliert.
Der wundersame Intendant Milo Rau ist aus der Schweiz gekommen und wird Die freie Republik Wien ausrufen, und viele sind herbeigeströmt um mitzumischen. An der schönen neuen Welt, dem „leidenschaftlichen Welttheater“. Künstler/innen, Intellektuelle, Aktivist/innen aller Arten, sogar, und darauf ist die Freie Republik besonders stolz, demokratisch auserwähltes Volk. Und schon gibt es einen Rat der Republik, der Stadt, Land, Europa, Welt repräsentiert, mehr geht wirklich nicht. Zuständig für die Verfassung der Freien Republik Wien ist der Rat auch noch und um die Geschworenen für die Wiener Prozesse, die die großen aktuellen Themen verhandeln, auf offener Bühne, muss er sich ebenfalls kümmern, Revolution ist eben ein Stress.
Aber jetzt wird erst einmal gefeiert, auf der Bühne und den Videoleinwänden und im VIP-Bereich mit den Top-Revolutionär/innen und den Multiplikator/innen und dem Gratissuff. Bipolar Feminin tobt sich aus und Pussy Riot und andere Vielgeliebte, und eine Pussy-Riot-Sängerin sagt Herzergreifendes, während auf dem aufs Rathaus projektierten Bild schwarze Tränen über ihr weißes Gesicht rinnen. Kapitänin Carola Rackete, die einst aus Seenot gerettete Flüchtlinge illegal übers Mittelmeer schipperte, spricht zu uns und Königin Sibylle Berg erscheint und Kim de l’Horizon betört und Video-Botschaften werden übermittelt von Landbesetzer/innen aus dem Amazonas und sogar von Ihrer Majestät Elfriede Jelinek.
Steht auf, steht auf für Liebe und Versöhnung! Die neu komponierte Hymne der Freien Republik Wien in der niemand zum letzten Gefecht muss, sogar ohne Verdammte dieser Erde kommt sie aus, fegt über den Platz, durch die zynischen, bitteren Herzen der Alten und die darbenden Herzen der Jungen. Und alles ist so verspielt und so ernst und so schön pathetisch und kitschig, so zum Lachen und Weinen. Aber eben so schön. Den Traum wieder wagen! Die Utopie, die lang verlachte, die nicht mehr gedachte. Plötzlich bäumt sie sich auf, und alles wird groß. Und es gibt wieder Luft zum Atmen und Lust und alle prosten sich zu und sind jung, auch die Alten, und sind in lustigen Grüppchen unterwegs und alle Geschlechter und Hautfarben präsentieren sich wie im Paradies. Nur dass die Farblosen, verglichen mit irgendeinem anderen Platz in der Stadt, doch krass überrepräsentiert sind.
Und dann sehe ich ihn. Er ist auch jung. Er ist klein, und er steht über einen Rollator gebeugt. Hinter einer hochgewachsenen Schriftstellerin, die den ganzen Abend strahlt und ausstrahlt wie aufgeladen von einem hochpotenten Akku, neben einem von ihr angestrahlten ebenfalls hochgewachsenen Mann. Der junge Mann reckt den Kopf, legt den Kopf in den Nacken, um etwas zu erhaschen, Bilderfetzen von der visuellen Flut auf Bühne und Leinwänden. Er gibt sich Mühe, den Rollator zu manövrieren, nach rechts, nach links, bleibt stecken in der Menge der Fröhlichen und der sich über seinem Kopf Zuprostenden.
Steht auf, steht auf, Für aller Menschen Glück! Irgendwann ist er verschwunden.