Was wäre die Gesellinnenschaft ohne sie, ohne uns? Ohne jene Wesen, die meist etwas unbemerkt irgendwo eintreten, und wenn sie gehen, fällt es nicht auf. Sie haben das Stadium der Unsichtbarkeit erreicht, von dem sie oft hörten. Sie könnten alles tun, nackt auf Tischen tanzen oder terroristische Akte vollbringen. Aber okay, die Tische sind etwas hoch, und anders als junge Männer haben sie nicht die geringste Lust zu sterben.
Die, die also irgendwie auch da sind, sind halt irgendwie auch da. Meist länger, sie sind gut im Durchhalten, sie halten was aus. Angeblich sind sie zäh. In Senior_innenclubs schwingen sie das gichtige Tanzbein, bei Kulturveranstaltungen sind sie in der Mehrzahl, ältere Dramen scheinen ein Bedürfnis zu haben, sich weiterzuentwickeln, die seltenen männlichen Begleiterscheinungen outen sich als Verschleppte. Ihrem Gläschen Wein sprechen sie eher abseits zu, vielleicht spricht es ja mit ihnen.
Lauter alte Frauen!, dachte ich, damals knackige 55+, in meiner fernen Jugend angeödet. Ich hütete mich davor, von einer älteren Person weiblichen Geschlechts in ein Gespräch verwickelt zu werden – es würde sicher langatmig werden, vielleicht hatte dieser oder jener Herr etwas Geistreiches auf Lager oder ein Mensch mit Jugend und Stil.
Die ist in den Wechseljahren! Diese ätzende Diagnose wird von Jungfrauen, aber auch von Altmännern gern gestellt, wenn sie mit einem weiblichen Wesen nicht besonders harmonieren. Ich muss gestehen, auch ich griff manchmal zur Todeswaffe. Beinahe so vernichtend wie die frustrierte Hausfrau. Die alte Schachtel war auch gut. Waren blühende Wesen nicht auf Schritt und Tritt von frustrierten Hausfrauen, alten Schachteln und Weibern in den Wechseljahren umzingelt, die ihnen alles vermiesen wollten, missgünstig, bösartig? Natürlich
eifersüchtig. Und dann erst die alten Hexen! Das waren die Role Models, die Jungfrauen einst zur Verfügung standen, Hollywood-Schauspielerin inklusive frühem, tragischem Tod, und Stewardess gab es auch noch. Dann suchten frustrierte Hausfrauen nach neuen Frustrationen, Hexen zogen in Hexen-WGs, alte Schachteln sprangen aus der Schachtel. Sie stiegen in Flugzeuge oder erklommen eine Karriereleiter, manche wurden gar Karriereleiter.
Habe ich etwa ein Anti-Deep-pressivum für Golden Girls eingeworfen? Jeanne Moreau – Jeanne d’Arc will ich gerade schreiben – hat gesagt, sie habe viele Rollen, die ihr im Alter angeboten wurden, abgelehnt. Immer sollte sie Alkoholikerinnen und Selbstmörderinnen spielen. Das, sagte sie, wollte sie den Frauen nicht antun. Ein schöner Sister-Solidaritäts-Spruch.
Seit ich die Altersschamschwelle schamlos überschritten habe, trotz der Knie, finde ich ältere Damen plötzlich hoch interessant. Sie sind die Interessantesten überhaupt. Was sie alles zu erzählen haben, und sie können erzählen. Die 100-jährige Künstlerin, Liebesveteranin und Kunstpionierin oder umgekehrt. Eine vom Forschen besessene Wissenschaftlerin schläft mit 103 nur drei Stunden in der Nacht. Gut, vielleicht ist sie mittlerweile tot, bei dem Lebenswandel.
Ältere Dramen sind außerdem gut. Die Mindestrentnerin überreicht dem Bettler mit Plastikbeinen ein Scherflein, die Greisin spendet für Kinder mit schrecklichen Krankheiten in Afrika. Wer steht bei sozialen Aktivitäten hinter einem Stand, wer liest mit Volksschulkindern? Der im Moment viel beschworene soziale Kitt ist dem unspektakulären Einsatz älterer Frauen zu verdanken. Ist es eine Legende, dass die Elefant_innenherde verwirrt durch die Steppe stolpert nach dem Tod der Matriarchin? Wenn diese das Zeitliche segnet, zerfallen Menschenfamilien oft schnell. Wer organisiert denn Familientreffen, schaut, dass der Clan nicht zerbröselt in einzelne Einzeller? Wer ist versöhnlich und schlichtet Streit, wer schaut, dass die Clique auf einander schaut? Wer hört sich Fortsetzungsgeschichten von Liebe und Kummer an und grenzt sich nicht ab und sagt nicht „dein Problem“? Wer hat all das schon gehabt und war all das schon, wer ist so ein Lebensprofi?
Das letzte Reservat der Güte, eine vollkommen unkapitalistische Eigenschaft.
Großzügig, großmütig, gratis wie eine Großmutter.
Michèle Thoma
Catégories: Die kleine Zeitzeugin
Édition: 03.03.2017