Die Nationalbibliothek experimentiert mit künstlicher Intelligenz, archiviert die hiesige Digitallandschaft und verleiht Bücher. Vor allem aber ist sie ein begehrter Lernort

Kaffee, Konferenzen und KI

Claude Conter (links), Carlo Blum (rechts)
Photo: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land du 31.05.2024

Am Dienstagmorgen um zehn Uhr wuseln etwa zwanzig junge Menschen um die Schließfächer der Nationalbibliothek (BNL). „Hier ist es ruhig und schön“, erläutert die 25-jährige Michèle aus Bascharage. Sie studiert Wirtschaftswissenschaften in Brüssel und bereitet sich auf ein Examen vor. Sie sagt: „Man ist in der Bibliothek von Menschen umgeben, die ebenfalls lernen, deshalb fühlt man sich nicht alleine“ Lou ist aus Capellen angereist. Sie schließt im Limpertsberger LGL ihr Abitur ab. Physik- und Mathematiknotizen geht sie heute durch. „In der Bibliothek kann ich mich besser konzentrieren, bin weniger von meinem Smartphone abgelenkt und wir treffen uns hier mit Schülern aus unterschiedlichen Sekundarschulen.“ Die Lern-Atmosphäre färbt ab, sie löst einen willkommenen Mimikry-Effekt aus; sie lässt Menschen an ihrem Stoff kleben – mathematische Gleichungen, Sachbüchern, Literatur. Aber nicht nur. Die BNL ist auch ein Zwischenstopp, wie für die 30-jährige Stéphanie aus Hobscheid. Sie unterrichtet in den umliegenden Banken Französisch: „Wenn ich früh dran bin, trinke ich meinen Kaffee in der Bibliothek, das Gebäude ist einfach schön.“ Manchmal stöbert sie in den Comic-Regalen und blättert durch Neuerscheinungen.

Kurz nachdem die Bibliothek ihre Türen geöffnet hat, sind fast alle Leseplätze besetzt. „Neben dem Gebäude befindet sich eine grüne, bebaubare Fläche; es stellt sich die Frage, wann die Bibliothek ausgebaut wird, um weitere – in erster Linie pädagogische – Dienste anzubieten“, erläutert Claude Dario Conter, der 2020 BNL-Direktor wurde. Das geschah nahezu gegen seinen Willen; das Kulturministerium wollte damals seinen Kopf an der BNL-Spitze, Conter aber wollte zunächst weiterhin das Nationale Literaturzentrum in Mersch leiten. Vor erst fünf Jahren wurde das 38 000 Quadratmeter Bauwerk eröffnet; aber das Bedürfnis nach einem ruhigen Lernort lässt bei Schülern und Studierenden nicht nach. An manchen Tagen kommen über 600 Personen in die Bibliothek; circa 38 000 Personen haben einen Nutzerausweis. Wir laufen am Musikraum vorbei. Darin spielt ein junger Mann am elektrischen Piano, auf seinem Rücken ist eine skateboardfahrende Keith-Haring-Figur abgebildet. „Der Raum ist häufig ausgebucht“, kommentiert Conter. Neben ihm läuft der Chef des Informatikdienstes und Stellvertretende Direktor, Carlo Blum. Seit Blum ins Direktionsteam berufen wurde, treten beide fast immer im Doppelpack auf.

Im Bibliothekswesen stehen nicht wenige Herausforderungen an. Mit dem „Plan S“ befindet sich die wissenschaftliche Publikationskultur in einem tiefgreifenden Wandel: Unter anderem die Europäische Kommission hat festgelegt, dass ab 2021 staatlich finanzierte Forschungsergebnisse in frei zugänglichen Publikationsorganen veröffentlicht werden sollen. „Aber aufgepasst, dies bedeutet nicht, dass die Veröffentlichung kostenfrei ist“, erläutert der promovierte Germanist Conter. „Es fallen zwar weniger Lizenzkosten für ein Lese-Abonnement an, aber die Forschungsinstitutionen müssen im Gegenzug erheblich höhere Publikationsgebühren zahlen.“ Diese sind derzeit jedoch nicht überschaubar, da es in Luxemburg keine zentralisierte Stelle gibt, die erfasst wie viele Aufsätze oder Studien von den einzelnen Forschungsinstituten veröffentlicht werden. Deshalb steht die Idee einer nationalen Bibliographie von wissenschaftlichen Dokumenten im Raume. Durch den Paradigmenwechsel vom klassischen Lizenzkostenmodell hin zu Open Access-Publikationen ist die BNL zudem stärker in forschungspolitische Fragen einbezogen. So wird mit dem Fonds National de la Recherche (FNR) und den Partnern aus der Forschung diskutiert, inwiefern Texte ganz ohne Barriere abrufbar sein sollen – das ist fair gegenüber den Steuerzahlern, die die Forschung mitfinanzieren. Allerdings wollen die Verlage in dem Fall weitere Kosten an die Forschungsinstitutionen auslagern.

Neben forschungspolitischen Akzentsetzungen bewältigt die BNL weitere Aufgaben: Sie archiviert seit 2017 luxemburgbezogene Webseiten; über 6,2 Milliarden Dokumente sind es mittlerweile. Zeitschriften, Broschüren und Postkarten werden ebenfalls digitalisiert und archiviert – sie erlauben es Sozialwissenschaftlern, den ideengeschichtlichen Wandel zu erfassen. Einfach ist das nicht, auch aus juristischen Gründen: Die EU-KI-Verordnung ist noch nicht in einer nationalen Gesetzgebung verankert. Bei vergriffenen Büchern beispielsweise stellen sich jedoch keine Fragen nach Urheberrechten, deshalb können diese problemlos in den digitalen Korpus eingespeist werden. Und dieser Prozess kann wiederum die Luxemburgisch-Kenntnisse von Large Language Models verbessern. „Darüber hinaus wird die automatische Verschlagwortung von Bildern vorangetrieben, und das Hinlotsen der Nutzer zu den Regalen über ein GPS-System bald ausgetestet werden. Möglicherweise wird der Büchertransfer innerhalb der Bibliothek künftig vollautomatisch ablaufen,“ erklärt Carlo Blum. Die Automatisierung dürfte die Personalkosten drücken. Ein jährliches Budget von etwa 7,5 Millionen Euro erhält die Nationalbibliothek vom Kulturministerium. 87 Frauen und 60 Männer sind in den neun unterschiedlichen Abteilungen der BNL angestellt, die meisten von ihnen in Vollzeit. Der technische Dienst beispielsweise werkelt, um Ausstellungen aufzubauen und Reparaturarbeiten zu erledigen. Um auseinanderfallende Bücher kümmert sich der Service de Restauration und der Service Public um Ausleihen. Andere logistische Neuerungen könnten den finanziellen Bedarf erhöhen: Derzeit testet man wie der Verleih über Pack-up-Stationen erleichtert werden kann. Außerdem hinkt die BNL gegenüber dem Ausland beim interbibliothekarischen Ausleih hinterher. „Es ist angedacht, die Ausleihoptionen mit universitären Einrichtungen auszuweiten“, meint Claude Conter, der immer, wenn er über die Bibliothek redet, einen ernsten, gar toternsten, Tonfall auffährt. „Daneben werden manche Adressaten noch nicht bedient“, sagt der Direktor. Er denke da an Einwohner von Altersheimen, Patienten in Spitälern und Insassen von Gefängnissen.

In den Bibliothekswissenschaften kursiert die Auffassung, dass die überlebensfähige Bibliothek des 21. Jahrhunderts jene ist, die ein breites Lern- und Bildungsangebot anbietet sowie in Medienworkshops investiert. So wundert es nicht, dass die BNL bereits vor ihrer Eröffnung in einem Pressedossier Weiterbildungen ankündigte. Auch Konferenzen finden in der BNL statt, wie am kommenden Donnerstag jene des Historikers Benoît Majerus über die luxemburgische Comicszene und das Comic-Festival in Contern. Bibliotheken bemühen sich, ihr Image der Hol- und Bring-Institution loswerden, sie sind zu Wohnzimmern im öffentlichen Raum mutiert: Ein Ort, an dem man zwar nicht die Schuhe auszieht, sich aber wie zu Hause fühlt; ein Ort, in den man kommt, ohne Eintritt zu zahlen. Ein grauhaariger Rentner sitzt am Dienstagmorgen vor einem Computerbildschirm. „Ich komme fast jeden Tag aus Walferdingen, um in der Bibliothek zu recherchieren“, erklärte er zuvor an der Eingangstür. Zu was er heute recherchieren wird, wusste er beim Ablegen seiner Sachen noch nicht. „Jeden Tag beschäftigt mich eine andere Frage.“

In der Antike waren Bibliotheken bereits öffentlich zugänglich, jedoch öffneten sie erst im 19. Jahrhundert ihre Türen für alle Gesellschaftsmitglieder und erhalten seitdem staatliche Kofinanzierungen. Ebenfalls im 19. Jahrhundert machten Bibliotheken zudem erste Fotokollektionen der breiten Öffentlichkeit zugänglich. Mit dem Aufschwung der Musik- und Filmindustrie integrierten Bibliotheken Mediatheken in ihren Räumlichkeiten. Allerdings haben sich die Dokumente aus den Mediatheken zunehmend in die Cloud verlagert, sodass Nutzer sich die Anfahrt in die Bibliothek sparen können: Über 22 000 Filme sind über Streamingdienste abrufbar. Von den 76 062 Ausleihen im vergangenen Jahr waren nur 6 700 audiovisuelle Dokumente. Mittlerweile ist ebenfalls ein großer Anteil an Büchern als E-book erhältlich, über das Bibnet sind es mehr als eine Million. Laut Eurostat-Erhebungen wird allerdings die Lektüre auf gedrucktem Papier bevorzugt, bisher konnten sich E-Books nur in skandinavischen Ländern durchsetzen. Das Werk mit Luxemburg-Bezug, das am häufigsten bestellt wurde, war Le droit judiciaire privé au Grand-Duché de Luxembourg von Thierry Hoscheid. Einige kommunale Bibliotheken bieten eine Ludothek an, manchmal mit Gaming Bereich. In England und Österreich sind Library of Things entstanden, in denen beispielsweise Bohrmaschinen ausgeliehen werden können. Soziale Anlaufstellen befinden sich in finnischen Bibliotheken. Ob auch Luxemburg diese Wege gehen wird, ist noch nicht klar. Für den BNL-Direktor ist jedenfalls eins sicher: „Unser Gebäude ist ein geschützter Raum, in dem Informationen über Recherchen nicht weitergeleitet werden. Wir sind kein kommerzieller Anbieter.“

Am Dienstagmittag waren die automatischen Ausleih- und Rückgabestationen plötzlich abgestürzt. Gleichzeitig postete der Historiker Benoît Majerus von seinem Arbeitsposten im BNL-Gebäude auf X: „Es scheint ein Problem mit eLuxemburgensia zu geben. Ich erhalte die gleiche Fehlermeldung auf allen Browsern.“ Ein Softwareproblem bei einem Drittanbieter hat bis 14 Uhr Probleme verursacht. Der Direktor versichert, dass man trotz gelegentlicher Pannen große Hoffnungen in technische Innovationen setzt. „Der Claude sagt oft in Interviews, wir stünden in der Mitte der Gesellschaft, und dort darf der menschliche Aspekt nicht fehlen“, sagt Carlo Blum seinerseits. Die Digitalisierung könnte die Bibliothek vermenschlichen, so die Rechnung von dem Informatiker: Denn um mehr Zeit für den Empfang der Besucher und die individuelle Beratung zu haben, muss das Personal von lästigen, repetitiven Aufgaben entlastet werden. Eine andere Rechnung könnte lauten: Roboter lesen von Robotern geschriebene Bücher – in einem Gebäude, in dem sie von Robotern empfangen werden.

Gesetzesreform

Das aktuelle Gesetz, das im Juni 2010 verabschiedet wurde, regelt die Kriterien, die eine als „öffentliche Bibliothek“ definierte Einrichtung erfüllen muss, um durch das Kulturministerium gefördert zu werden. Von den 160 Bibliotheken haben nur zwölf ein Agrément mit dem Ministerium. Es handelt sich dabei sowohl um von Vereinen getragene Bibliotheken, wie die Weeltzer Ludo-Bibliothéik, als auch um kommunal organisierte Dienste, wie die Bibliothek Tony Bourg in Ulfingen oder die Cité Bibliothek im Zentrum von Luxemburg-Stadt. Um das hiesige Bibliothekswesen zu professionalisieren, soll an dem Gesetz gefeilt werden, erläuterte DP-Kulturminister Eric Thill in seiner Abschlussrede während der Assisen des Sektors am vergangenen Freitag. Und auch die Aufgaben von Bibliotheken sollen weiter gefasst werden: Denn Bibliotheken verstehen sich nicht nur als ein Gebäude, das Dokumente bereit stellt, sondern zunehmend als sozialer Ort – er soll junge Menschen an die Leselust heranführen und für Ältere Weiterbildungsangebote organisieren. Das Kulturministeriums will deshalb ein robusteres Budget zur Verfügung stellen, um das Personal auf vielfältige didaktische Aufgaben vorzubereiten. Zusätzlich dürfte es künftig eine Unterstützung für kulturelle Programme geben: Warum nicht Lesungen und Schreibateliers mit Autoren anbieten?

„A wann mer gutt Aarbecht um Terrain an deene verschiddenen Regioune wëlle maachen, jo da brauche mer méi finanziell Ënnerstëtzung“, sowie mehr Personal, referierte Eric Thill vor einer Woche. Vor allem wurde am Freitagmorgen erneut deutlich, dass „One-Man- und One-Woman-Bibliotheken“, wie sie der Minister nannte, den Anschluss an das digitale Bibnet-Netzwerk häufig nicht schaffen. Und das hat deutliche Konsequenzen, denn er ist das Hauptkriterium, um Beihilfen beantragen zu können. Nun wird vom Ministerium in Betracht gezogen, kleinen Einrichtungen bei der Digitalisierung entgegenzukommen. Künftig soll die finanzielle Unterstützung insgesamt höher gestaffelt werden, und auch thematische Bibliotheken wie die vom CID Fraen an Gender sollen bezuschusst werden. Bisher übernimmt der Staat bis zu 50 Prozent der Personalkosten von öffentlichen Bibliotheken und verteilt einen Zuschuss von bis zu 20 000 Euro für Bücher- oder Mobiliaranschaffungen. Im DP-CSV-Koalitionsabkommen vom Oktober 2023 wurde zudem festgehalten, dass die Anzahl an kommunal geführten Bibliotheken wachsen soll. Aber: „Et ass net de Moment an net richteg, d’ASBL’en ofzeschafen, ech stinn zu der autonomie-communale“, so der liberale Minister. Die Gemeinderäte müssten sich Bibliotheken freiwillig annehmen. Oder aus einem Anreiz heraus: Für neue Bibliotheken gibt es eine Startprämie; für eine interkommunale Fusion oder Überführung von unterschiedlichen Bibliotheken in kommunale Hand ist eine Subvention von 75 000 Euro vorgesehen. „Wir brauchen keine weiteren kleinen Bibliotheken, sondern mehr Bibliotheken, mit regionaler Ausrichtung“, unterstrich der BNL-Direktor Claude Conter am Freitagmorgen während einem Rundtischgespräch. „Wëll do ass een Desequiliber: Mir hunn 100 Gemengen an nëmmen zwielef ëffentlech Bibliothéiken.“ Er sehe zuvorderst im Westen und Osten ein Lücke. Sie gehörten auch nicht in eine Industriezone, sondern „ins Zentrum einer Ortschaft“, betonte Claude Conter, dessen Bibliothek sich am Stadtrand befindet.

Weiterhin müssten öffentliche Bibliotheken mindestens zwölf Stunden die Woche geöffnet sein, um eine staatliche Unterstützung zu erhalten, erläuterte Minister Thill. Aber die Öffnungszeiten dürften nach der Gesetzesreform flexibler gestaltet werden. Der Zugang zu luxemburgischsprachigen Werken müsse zudem „gestärkt werden“ – der Nordpolitiker ist zugleich für das Zenter fir d‘Lëtzebuerger Sprooch zuständig. Im Schnitt führen die zwölf öffentlichen Bibliotheken einen Anteil von circa 7 Prozent luxemburgischsprachigen Werken, knapp 60 Prozent deutschen Büchern und fast 25 Prozent französischen. Das spiegelt in etwa die Nachfrage, wobei im Norden vergleichsweise häufiger deutschsprachige Dokumente bestellt werden als im Süden. Schließlich könnte die Einführung eines einheitlichen Ausweises den Zugang zu allen öffentlichen Bibliotheken erleichtern und deren Vernetzung voranbringen. „Die Zusammenarbeit im Bibnet hat vieles vereinfacht“, kommentierte Anita Eydt-Schmit der Viandener Ourdall-Bibliothek. „Nun kann man Verschlagwortungen von anderen Bibliotheken mit einem Klick übernehmen und sich besser austauschen.“

Stéphanie Majerus
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