Am 4. Dezember 2013 war der nette junge Mann mit dem Schal Premierminister geworden. Mit schallendem Lachen löste er den im Laufe von 30 Jahren Regierungsämtern griesgrämig gewordenen Jean-Claude Juncker ab. Mit gerade 40 Jahren sollte Xavier Bettel eine Regierung von schwungvollen jungen Männern anführen, die noch nicht richtig glauben konnten, dass sie gerade den christlich-sozialen Lindwurm erlegt hatten, die sich nun wie Himmelsstürmer vorkamen und als Zeichen ihrer Verschworenheit die gleichen zu einem Ankerstich verknoteten Schals trugen.
Wie es sich für einen liberalen Politiker gehört, stammt Xavier Bettel aus einem Geschäftshaus. Sein Vater, Claude Bettel, war Weinhändler, seine Mutter, Aniéla Bettel Spiro-Rachmaninoff, war am Ende ihrer Berufslaufbahn Personaldirektorin einer Bank. So erfuhr er schon sehr früh, dass jeder seines eigenen Glückes Schmied zu sein hat.
Trotzdem erkannte Xavier Bettel die soziale Frage. Denn sein Vater half, die Kiwanis-Clubs zu gründen, und seine Mutter betreute einen Stand auf dem Bazar international des Roten Kreuzes. Seither hält er auch den Sozialstaat für einen Service-Club, der nicht umverteilen, sondern wohltätig gegenüber den Bedürftigen sein soll. Für einen liberalen Menschen ist die Gesellschaft strukturell weder gerecht noch ungerecht, Armut ist ein sporadischer Schicksalsschlag in Einzelbiografien. Die Armen bräuchten deshalb „keine Matratze zum Pennen, sondern ein Trampolin zum Springen“, dozierte er einem Passanten in seiner Wahlkampfwerbung Better call Bettel.
Der von ihm seit Jahren verbreitete Gründungsmythos des DP-Politikers Xavier Bettel ist, dass er sich als Schüler furchtlos für einen Spielplatz in seinem Wohnviertel eingesetzt habe und dafür von DP-Bürgermeisterin Lydie Polfer erhört worden sei. Im Gegenzug trat er mit 15 Jahren der DP bei, und Lydie Polfer erzog ihn zu ihrem Ebenbild, lebte ihm die Geheimnisse ihres jahrzehntelangen Erfolgs vor: Stets die bekannten und die unbekannten Passanten freundlich grüßen, bis in die Kinderwagen hinein sich nach Opa und Oma erkundigend und ihnen schöne Grüße ausrichtend. Stets ein offenes Ohr für die kleinen Leute, ihre kleinen Sorgen, ihre kleinen Vergnügen zeigen. Stets Politik auf das Menschliche reduzieren, ob mit Frau Schmit oder mit Herrn Macron. Unschlagbar ist Xavier Bettel in der Anteilnahme geworden, wenn er Trauerreden hält und vor laufenden Kameras Tränen für die ermordeten Journalisten von Charlie Hebdo vergießt, die für seinesgleichen nur den unflätigsten Spott übrig hatten. Stets zeigen, dass man sich kümmert, um die kaputten Straßenlaternen und um den vielen Taubendreck. Noch als Premier lässt Xavier Bettel es sich nicht nehmen, auf jedem Parteitag in Begleitung von zwei Leibwächtern einige Stühle in den Saal zu tragen, so als seien die Kongressteilnehmer unerwarteter, aber umso willkommener Besuch zu Hause. Stets das blaue Netz von Klientelismus weiterstricken, das die Notabelnpartei und ihre Wählerschaft zusammenhält. Stets freundlich lächelnde Gnadenlosigkeit gegen Rivalen walten lassen – und wer ist in einer liberalen Welt kein Rivale? Ohne Wahrung des schönen Scheins servierte der nette junge Mann mit dem Schal nach den Gemeindewahlen 2011 für 512 Stimmen Bürgermeister Paul Helminger ab und sein großes Vorbild Lydie Polfer nach den Gemeindewahlen 2017 die Grünen. Das sind alles die Erfolgsrezepte einer mehr als 20 Jahre lang amtierenden kommunalen Großherzogin, so wie Landespolitik in einem den Namen einer Stadt tragenden Zwergstaat nur eine andere Form von Kommunalpolitik ist.
Als junger Mann hatte Xavier Bettel in Nancy und als Erasmus-Student in Thessaloniki Recht studiert. Rechtsanwalt ist der Idealberuf für eine politische Laufbahn, die dann auch im Fünfjahrestakt drehbuchgerecht verlief: Fünf Jahre nach seinem Parteieintritt wurde er Präsident der Jungdemokraten, fünf Jahre danach hatte er einen der heiß begehrten Kandidatenplätze auf der Zentrumsliste der DP. Als die Bestgewählten Minister wurden, rückte er ins Parlament nach. Fast zur gleichen Zeit wurde er in den hauptstädtischen Gemeinderat gewählt, fünf Jahre später wurde er Stadtschöffe, sechs Jahre später Bürgermeister, zwei Jahre danach Premierminister.
Ganz einfach war der Aufstieg in der Partei nicht. Denn der 26-jährige Präsident der Jungdemokraten war zusammen mit einem anderen Sohn eines Geschäftsmanns, dem Vizepräsidenten der Jungdemokraten, Claude Meisch, ins Parlament gewählt worden. Sie waren die einzigen DP-Abgeordneten unter 50 Jahren. Als es dann hieß, die Partei zu verjüngen, wollten die Alten lieber dem seriös daherkommenden Meisch vertrauen und ihn zum Parteivorsitzenden machen als Xavier Bettel, den sie verdächtigten, ein Spaßpolitiker wie Guido Westerwelle zu sein, der gerade das Ansehen der deutschen Schwesterpartei ruinierte. Also machten sie nicht Bettel, sondern erst einmal Meisch zum Parteipräsidenten.
Wenn Xavier Bettel es dennoch zum wenig erfolgreichen Fraktionsvorsitzenden und dann zum Parteivorsitzenden brachte, dann weil er um das Gemeindewahljahr 2011 plötzlich in den Meinungsumfragen populärer als Jean-Claude Juncker wurde. Nach neunjährigem Marsch durch die Wüste der Opposition führte in der Partei kein Weg mehr an dem politischen Wunderkind vorbei – bis ins Hôtel de Bourgogne, dem Sitz des Staatsministeriums.
Kein Wunder, dass Xavier Bettel sich lieber mit langjährigen Freunden umgibt, um seine Machtbasis zu festigen. Als er 2011 Parteipräsident wurde, machte er Claudia Monti, die mit ihm die Anwaltskanzlei teilte, und Maggy Nagel, die ihm in der Gemeindeverwaltung unterstand, zu Vizepräsidentinnen. Auch als Regierungschef blieb er Parteipräsident, um die Kontrolle über die Partei im Dienst der Regierung zu behalten. Erst nach dem politischen Debakel von 2015 gab er im November desselben Jahres den Parteivorsitz an Corinne Cahen ab, mit der er die Schulbank gedrückt hatte und in deren Schuhgeschäft er zu jeder Braderie aushalf.
Auch als Premierminister suchte Xavier Bettel sich seine Vertrauensleute weniger nach ihrer Qualifikation als nach dem privaten Freundschaftsverhältnis, der Loyalität, aus, manchmal an den zuständigen Verwaltungen vorbei. Er machte den Chefredakteur des Jugendsenders Eldoradio, Paul Konsbruck, zuerst zu seinem Pressesprecher und politischen Leibwächter, dann zu seinem Kabinettchef, der all die Akten zu kennen hat, die sein Chef nie liest, und der stets in Reichweite bleiben muss, um das richtige Stichwort zu flüstern oder vor dem nächsten Schnitzer zu warnen. Claudia Monti machte er zur Ombudsfrau, die unabhängig seine Verwaltung kontrollieren sollte. Der Verwaltungsratsvorsitzende des Museums für moderne Kunst Mudam und des Radios 100,7, der Geschäftsmann Laurent Loschetter, erklärte am Sonntag in einem Radiointerview, dass er „seit 30 Jahren“ ein Freund des Premiers sei und als dessen „Vertrauensperson“ in Verwaltungsräten sitze.
Von einem begnadeten Selbstdarsteller mag es überraschen, dass Xavier Bettel den größten Teil seiner Amtszeit als Premierminister und bis zum Wahlkampf politisch wenig in Erscheinung trat. Er war in der Landespolitik nicht richtig unsichtbar. Er wirkte eher durchsichtig, irgendwie unklar, verschwommen.
Eine solche Fehlleistung war abzusehen. Denn im Grunde wollte er weder diese Koalition, noch Minister werden. Vor den Wahlen hatte er lange beteuert, dass er Bürgermeister bleiben und keiner Regierung angehören wollte, denn die Hauptstadt zu leiten sei seine Lieblingsbeschäftigung. Das hatte dann dazu geführt, dass er nur Spitzenkandidat im Zentrumsbezirk war und die DP offiziell keinen nationalen Spitzenkandidaten hatte, was ihm in der Partei auch als Launigkeit vorgeworfen worden war. Als dann aber gewählt wurde, wusste er, dass man in einer Politikerlaufbahn selten zweimal den Regierungsvorsitz angeboten bekommt und er zugreifen musste.
Auch einer Koalition mit LSAP und Grünen stand er lange ablehnend gegenüber. Denn sie entsprach nicht gerade seinem politischen Weltbild. Unter dem Druck der Koalitionspartner drohte sie linksliberaler auszufallen, als ihm lieb war. Er lehnt es stets ab, sich, wie die DP von 1974, als linksliberal zu bezeichnen, angeblich weil er sich gegen ideologisches Schubladendenken wehrt, aber in Wirklichkeit, weil er alles andere als linksliberal ist. In verschiedenen gesellschaftspolitischen Fragen, wie dem Verhältnis von Staat und Kirche, der Abtreibung oder der gleichgeschlechtlichen Ehe, gibt er sich zwar weltoffen und tolerant, aber in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen ist er sehr konservativ. Er musste nach dem Referendum 2015 nicht lange überzeugt werden, dass die zornigen Wähler „reformmüde“ geworden seien, denn er war es wohl auch.
In der Vergangenheit hatten sich die Premierminister nicht mit dem Regierungsvorsitz begnügt, sondern übernahmen noch andere wichtige Ressorts. Pierre Dupong, Pierre Werner, Jacques Santer und Jean-Claude Juncker waren auch Finanzminister, Joseph Bech und Gaston Thorn Außenminister, Pierre Frieden war auch noch Erziehungs-, Familien- und Innenminister, Jean-Claude Juncker Arbeits-, Pierre Werner vorübergehend Justiz- und Außenminister. Premier Xavier Bettel ist dagegen bloß noch für das eher unbedeutende Ressort Kultur zuständig. Und auch das nicht, weil er knallbunte Popkunst mag oder der Komponist Sergei Wassiljewitsch Rachmaninow ein Vetter zweiten Grades des Großvaters mütterlicherseits seiner Mutter war, sondern weil nach der Abberufung von Kulturministerin Maggy Nagel Ende 2015 Staatssekretär Marc Hansen Minister werden sollte und der neue Staatssekretär für Kultur, Guy Arendt, einen federführenden Minister brauchte.
Als Premier kündigte Xavier Bettel an, kollegialer als sein Vorgänger zu arbeiten, die Ministerkollegen auch zum Zug kommen zu lassen. Sicher wollte er auch nicht alleine exponiert sein, sich nicht zu Themen äußern müssen, für die er sich nicht interessierte. Auch hatte er angekündigt, offener und transparenter zu sein. Er ließ im Entwicklungshilfeministerium einen Presseraum einrichten, um das wöchentliche Pressebriefing abzuhalten und live im Internet zu übertragen. Aber an den Pressebriefings verlor er noch rascher die Lust als sein Vorhänger. Wo Jean-Claude Juncker unbequeme Journalistenfragen wegzubeißen verstand, antwortete Bettel nur schnippisch. Dafür gab er sich umso mehr Mühe, sich unter Umgehung der Presse direkt an die Wähler zu wenden, die Berichterstattung zu steuern und zu bremsen und nunmehr Information durch Kommunikation zu ersetzen, wie es in der von Jean-Claude Juncker verachteten Werbebranche heißt.
Zu der versprochenen Kollegialität gehörte auch, dass der Premierminister die großen politischen Reformen der Legislaturperiode den Ressortministern, oft sogar anderer Parteien, überließ, was ihm in der DP öfters vorgeworfen wurde. Die Trennung von Kirche und Staat führte weitgehend Innenminister Dan Kersch (LSAP) durch, mit der Steuerreform wurde Finanzminister Pierre Gramegna (DP) identifiziert, mit der Kindergeld- und Elternurlaubsreform Familienministerin Corine Cahen (DP), ganz zu schweigen von Rifkin und Weltraumplänen. Das sollten die Schlüsselreformen der Regierung sein, aber der Regierungschef schien dabei merkwürdig abwesend. Seine Partei kritisierte ihn heftig dafür, dass er die Lage nicht im Griffe hatte und der LSAP die politische Initiative überließ. Vizepremier Etienne Schneider erschien als der heimliche Regierungschef und durfte, ohne dass der Premier eingeschritten wäre, die Koalition mit einer Schnapsidee wie dem Referendum ins Unglück stürzen.
So enttäuschte Xavier Bettel auch die Unternehmerlobbys, als er in seiner Erklärung zur Lage der Nation vor zwei Jahren eine Reform der Arbeitszeit ankündigte, die nicht Arbeitsminister Nicolas Schmit mit den Unternehmerverbänden, sondern am Ende Wirtschaftsminister Etienne Schneider mit dem OGBL beschlossen und dann dem Premier in die Feder diktiert hatte. Die DP wisse offenbar nicht mehr, wer ihre Wähler seien, hatte sich der Generalsekretär des Handwerkerverbands, Romain Schmit, im Radio 100,7 aufgeregt. Einige in der DP einflussreiche Unternehmer, die sich darauf verlassen hatten, ihren jungen und unerfahrenen Premier paternalistisch gängeln zu können, waren nun entsetzt, dass Xavier Bettel eine Marionette der LSAP, das heißt des verhassten OGBL geworden zu sein schien.
Das politische Erfolgsprogramm Xavier Bettels war sein jugendlicher Charme und seine unermüdliche Selbstinszenierung. Er wollte von allen geliebt werden, und das erreichte er so lange, wie er keine Position beziehen musste, wie er als junger Schöffe durch die Stadtviertel marschieren, sich für alle Anliegen interessiert und für keine verantwortlich zeigen konnte. Als Bürgermeister und mehr noch als Regierungschef musste er Entscheidungen fällen oder wenigstens mittragen und verteidigen. Dadurch hörten ein Teil der Leute auf, ihn zu lieben. Also blieb er lieber verschwommen, durchsichtig. Manchmal ging der allzu spontane Umgang mit dem Zauber der neuen Regierungsmacht auch schief, so als er beim Besuch des japanischen Premiers Shinzo Abe einen „G-9“ europäischer Zwergstaaten ankündigte, oder er den Direktor des Mudam vor laufender Kamera vorverurteilte.
Das Bedürfnis, von allen geliebt zu werden, nährt auch einen kleinlichen Manichäismus: Wer kein Freund ist, ist ein Feind, in der Partei, in der Verwaltung, in den Verbänden, in der Presse. Öffentliche Auftritte, bei denen Xavier Bettel Kritik erwartete, schwänzte er am liebsten. Als die Filmproduzenten begannen, weitere Millionen aus der Staatskasse zu verlangen, verzichtete er auf seine Reise zu den Filmfestspielen in Cannes und erwähnte seine Anwesenheit bei der Verleihung des Luxemburger Filmpreises mit keinem Wort in seinem Twitter-Wahlkampf.
Am wohlsten schien Xavier Bettel sich bei internationalen Auftritten gefühlt zu haben, wenn er sich bei Gipfeln der Europäischen Union oder anderen Gelegenheiten mit den Großen dieser Welt zeigen konnte, unter liberalen Mittvierzigern wie den Regierungschefs Belgiens, der Niederlande oder Kanadas und dem französischen Präsidenten. Dann gelang es ihm auch, das von Steuer-Rulings und Jean-Claude Juncker lädierte Ansehen des Landes aufzupolieren, weniger durch mutige politische Initiativen als durch seine Auftritte als gut gelaunter junger Mann, der in Begleitung seines Ehemanns das als Steueroase verschriene Luxemburg plötzlich als moderne, weltoffene Gesellschaft erscheinen ließ.
Zum Leidwesen der CSV führte Xavier Bettel die Koalition bis zum Ende der Legislaturperiode und zeigte so, dass das Land auch ohne CSV nicht im Chaos versinkt. Aber das wussten alle, einschließlich der CSV, die das Chaos von 2013 angerichtet hatte.
Doch der in politischen und wirtschaftlichen Dingen nicht sonderlich weitsichtige Premier scherte sich nicht darum, dass er bloß als ein weiterer Premier, der nicht der CSV angehört, in die Geschichtsbücher eingehen wird. Er hatte keine richtige Vorstellung vom Umfang der Reformagenda, die nach all den Jahren der sozialpolitischen Pattsituation unter CSV und LSAP durchzusetzen von ihm erwartet worden war.
Vielleicht vermutete Xavier Bettel, dass es 2013 bis 2018 um wesentlich mehr gehen sollte als um das Abtreibungsverbot und die Kirchenfabriken. Dass er eigentlich vorbestimmt war, als Luxemburger Gerhard Schröder in die Geschichtsbücher einzugehen, der endlich eine liberale Agenda 2018 durchsetzen sollte, um die Lohnstückkosten auf das Niveau der deutschen Agenda 2010 zu drücken. Aber dieses Rendez-vous mit der Geschichte hat der nette junge Mann mit dem Schal verpasst.