Neue Wachstumspolitik

Die liberale und die konservative Variante

d'Lëtzebuerger Land vom 15.12.2017

Am Montag war ein großer Tag. „We are incredibly proud and of course happy about Google’s announcement in Luxembourg“, ließen Pre­mierminister Xavier Bettel (DP) und Wirtschaftsminister Etienne Schneider (LSAP) über Twitter verbreiten. Der Internet-Oligopolist aus den USA hatte gerade angekündigt, sich „33.7 hectares of land in the Bissen Commune in the Grand Duchy of Luxembourg“ gesichert zu haben, um dort vielleicht einmal ein weiteres Rechenzentrum zu bauen. Die freudige Aufregung der Minister wurde von der Vorstellung geschürt, dass einmal in riesigen, menschenleeren Hallen Tausende Computer die Frucht der weitgehend kostenlos geleisteten geistigen Arbeit von Millionen Menschen in aller Welt zu Geld machen und die Staatskasse eine hauchdünne Scheibe davon abbekommt, ohne Staus auf der A3, ohne Rentenansprüche und ohne Gewerkschaften.

Einen Tag später begannen die Haushaltsdebatten im Parlament, und Alex Bodry wusste, dass „alle Parteien sich einig sind, dass wir Wachstum brauchen. Aber wir müssen versuchen, es zum Teil anders zu erwirtschaften, als wir das heute tun“. Das Wirtschaftswachstum solle „in Bereichen stattfinden, die einen hohen Mehrwert produzieren können, und mit der Idee der Kreislaufwirtschaft, auch mit der Idee, uns auf die digitale Revolution vorzubereiten...“

Die Steigerung der Mehrwertrate gehört zum Tagesgeschäft jedes Unternehmens, die Senkung des Lohnkostenanteils an den Produktionskosten wird unter den Verhältnissen des globalisierten Wettbewerbs allgemein als notwendig angesehen. Doch mit der unter der vorigen Koalition geschürten Panik vor dem 700 000-Einwohnerstaat und der Rentenmauer wurde erstmals der Weg zu einer „neue Wachstumspolitik“ und „qualitatives Wachstum“ genannten, weit radikaleren Steigerung der Mehrwertrate geebnet. DP, LSAP und Grüne hatten nun ein Hauptanliegen daraus gemacht und zwecks gesellschaftliche Akzeptanz den Wunderheiler Jeremy Rifkin bestellt.

Auf die Spitze getrieben, soll das neue Luxemburger Modell die abstrakte von der konkreten Arbeit trennen wie die Köchin den Dotter vom Eiweiß und am liebsten nur noch an der abstrakten Arbeit verdienen, die als Teil der im Ausland oder gar im Weltraum geleisteten konkreten Arbeit entsteht. Die konkrete Arbeit soll als ökologische, politische und religiöse Bedrohung der Luxemburger Nachhaltigkeit an den Grenzen abgewiesen werden wie die Hunde vor der Metzgerei, nur die abstrakte Arbeit soll über Bankkonten, Steuer-­Rulings, Datenzentren und Weltraumlizensen durchgelassen, weitergeleitet und dabei kurz angezapft werden.

Über diese Umkehrung der altehrwürdigen Verhüttungsklausel in ihr Gegenteil zeigen sich die Abgeordneten aller Parteien einig, auch weil sie sich davon die Absicherung ihrer eigenen politischen und geschäftlichen Grundlage versprechen. Über diese grundlegende Einigkeit konnte auch nicht hinwegtäuschen, dass bei den parlamentrischen Haushaltsdebatten diese Woche die Zustimmung in zwei verschiedenen, einer liberalen und einer konservativen Variante, erfolgte.

Berichterstatterin Joëlle Elvinger hatte am Dienstag im Namen der DP und deren Finanzministers die liberale Variante geliefert. Für sie hat Luxemburg es fertiggebracht, „besser da zu stehen als die meisten anderen EU-Staaten“, die Wirtschaft floriere, die Kredite nähmen zu. Trotz des „ganz schweren Erbes“ der Vorgängerkoalition von CSV und LSAP sei eine Sanierung der Staatsfinanzen gelungen, die nun erlaube, „Politik im Interesse der Leute“ zu betreiben, „den Leuten eine Chance zu ihrer persönlichen Entwicklung“ zu bieten und „die Zukunft vorzubereiten“. Trotz der Steuererleichterungen nähmen die Steuereinnahmen zu, bei der Staatsverschuldung habe „diese Regierung exzellent gearbeitet“, die Finanzlage der Rentenversicherung sei „eher komfortabel“. Durch die Senkungen des mittelfristigen Haushaltsziels habe sich die Regierung zusätzlich Spielraum verschafft, auch wenn sie ihn nicht voll ausnutze.

Joëlle Elvinger hatte schon vor Wochen gemeint, dass die restlose Trennung der abstrakten von der konkreten Arbeit sogar zu einer Befreiung von den Zyklen und Krisen der stinkenden und lärmenden Realwirtschaft führen könnte. In einem Rundfunkinterview hatte sie behauptet, dass es gar keinen direkten Zusammenhang zwischen dem Wirtschaftswachstum und den Staatseinnahmen mehr gebe. So als seien das eine die Niederungen von Angebot und Nachfrage, Lieferengpässen, Arbeitslosigkeit und Absatzschwierigkeiten, das andere aber die höhere Sphäre der von der Konjunktur unabhängigen „tatsächlichen Staatseinnahmen“.

Finanzminister Pierre Gramegna bestätigte am Mittwoch „die positive Dynamik“ der Staatseinnahmen, obwohl das Statec seine Prognosen über das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts nach unten korrigiert habe. Es gebe keinen Grund zur Schwarzmalerei, die Reserven der Rentenversicherung seien so hoch wie nie. Diese liberale Variante der „Wachstumsdebatte“ ist zukunftsorientiert und will Optimismus verbreiten, damit die Wähler den Regierungsparteien noch einmal Vertrauen schenken, um weiterzuregieren, und weil der liberale Mensch ein Erfolgsmensch sein muss. Diese Variante wird nicht nur von der DP, sondern auch von LSAP und Grünen vertreten. Auch wenn Alex Bodry im Namen der LSAP-Wähler sich wünschte, dass das „Wachstum gerechter verteilt werden“ solle, und Viviane Loschetter nachdrücklich aktieren ließ, dass die Grünen schon 1987 den Brundtland-Bericht über Nachhaltigkeit gelesen hätten

CSV-Spitzenkandidat Claude Wiseler schwor ebenfalls auf das Oxymoron des qualitativen Wachstums, auf die „Zukunftspolitiken, die quasi von sämtlichen Parteien so anerkannt werden“. Er zählte auf, was die Regierung alles tue, und räumte immer wieder ein, dass sie eigentlich Recht damit habe, bloß dass die CSV es noch besser tun würde. Denn mit über 900 Millionen Euro Defizit bleibe gar „kein Freiraum für wesentliche Zukunftspolitiken“, die Investitionsprogramme reichten gar nicht aus, um das gewaltige Wachstum zu begleiten sowie den Transport, den Wohnungsbau, den Mittelstand, die Digitalisierung, den Klimaschutz, die Kreislaufwirtschaft und die Energieumstellung auf ein „Prosumer-Modell“ zu fördern.

Aber die CSV steht für die konservative Variante der neuen parteiüberergreifenden und deshalb nützlicherweise auch mit allen Koalitionen kompatiblen Wachstumspolitik. Wenn sie einen malthusianistischen Wahlkampf mit Überbevölkerungs- und Überfremdungsängsten versucht, dann nur taktisch im Widerspruch zur Regierungspolitik, aber strategisch in deren Ergänzung. Wer streckt schließlich nicht die Waffen, wenn binnen 40 Jahren ein „Wachstum um 110 Prozent der Bevölkerung“ notwendig scheint wie „das optimistische Szenario“ des Conseil national des finances publiques „mit brutaler Deutlichkeit“ vorrechnet? Bei einer Million Einwohnern und der hundertprozentigen Berücksichtigung der „Kosten des Alterns“ müsse der mittelfristige Haushaltsüberschuss sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmachen, statt des von der Regierung geplanten halbprozentigen Defizits, so Wiseler.

Selbstverständlich kann die CSV nicht anders, als Pessimismus zu verbreiten: Weil die Regierung eine Defizitregierung sei, die mit ihrem Haushalt „die Zukunft nicht vorbereitet, sondern hypothekiert“, sollen die um ihre Zukunft besorgten Wähler keine andere Wahl haben, als die Staatsgeschäfte wieder der CSV anzuvertrauen.

So beschränkte sich die Opposition in all dem parteiübergreifenden Konsens weitgehend darauf, dass die DP der vorigen Koalition von CSV und LSAP vorwarf, im Umgang mit Staatsschuld, Mehrwertsteuer und Tanktourismus fahrlässig vorgegangen zu sein, und der ehemalige Minister Wiseler trotzig zurückfragte: „Weshalb tut Ihr nicht, was ihr der vorigen Regierung vorwerft? Ihr tut es auch nicht!“ Ganz Unrecht hatte er nicht. Denn Finanzminister Pierre Gramegna gab im Laufe der Legislaturperiode sein Sparpaket ebenso sang- und klanglos auf, wie sein CSV-Vorgänger Luc Frieden ein Sparpaket nach dem anderen verbrannte. Die Politik ist eben stärker als die Politiker.

Romain Hilgert
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