Dicke Bücher können eine echte Plage sein, besonders wenn das Verhältnis zwischen der Qualität des Textes und der verlesenen Zeit zu Ungunsten des Textes aus dem Gleichgewicht gerät. Pfundweise möglicherweise nicht lohnende Lektüre, das will wirklich niemand. Auch der Gewichtsfaktor ist nicht zu unterschätzen. Bei Schülern wie bei Akademikern sind Wälzer daher allgemein mit negativen Vorurteilen belastet. Wer sich von Berufs wegen mit Büchern befasst, freut sich in der Regel über schmale Bändchen.
Cornel Meders neues Buch, übrigens schon das zweite in diesem Jahr, das der Autor im Eigenverlag herausgibt, umfasst knapp hundert kleine Seiten, die im Schnitt lediglich etwas über eine halbe Normseite (das ist: 30 Zeilen à 60 Anschläge) ergeben. Ein kaum zu unterbietender Umfang also, der den Leser unbedingt günstig stimmen muss, umso mehr, als der Werbetext für Picks & Co den unverkennbaren „stilistischen Touch“ eines „lakonisch-ironischen Kurzprosa-Meisters“ verspricht. Für raumgreifende Ausführungen und detailreiche Beschreibungen ist Meder in der Tat nicht bekannt. Schon wird die Sammlung von kurzen Texten und „Geschichtchen“ in der Übereinstimmung von Buchumfang und Schreibweise selbstreflexiv. Auch das ist wie dazu gemacht, den Leser günstig zu stimmen.
Doch schon nach wenigen Seiten wird sich der solcherart vereinnahmte Leser womöglich fragen, ob er mit dem „Büchlein“ (vgl. S. 3) überhaupt anvisiert ist. Schon im Vorwort kündigt sich eine gewisse Kryptik an. Hier widmet Meder Picks & Co dem Andenken an Léopold Hoffmann, dessen Stil sich „fern vom heute üblichen Ton des Säbelrasselns“ bewege. Wen oder was der Autor mit diesem Pauschalanwurf eigentlich meint, bleibt im Dunkeln.
Im ersten Teil versammelt Meder „Figuren“: „die Figur, die nicht hören wollte“ etwa, weiter „die Figur, die immer nur das Beste wollte“ oder „die Figur, die ständig lacht“. In ein paar Sätzen entwickelt er dazu Situationen und Wertungen, die diese Figuren dürftig in ein Umfeld einbetten und ihre Wirkung auf dieses Umfeld anzeigen. Was es weiter mit diesen Figuren auf sich hat, ist schwer zu begreifen. Selbst, ob es sich um Typen oder Einzelfälle handelt, ob also eine bestimmte Art Mensch oder ein ganz bestimmter Mensch gemeint ist, lässt sich kaum sagen: Meder wechselt zwischen vereinzelndem Präteritum und verallgemeinerndem Präsens. Dass der Autor als letzte Figur in der Reihe „die Figur meines ‚Steinberg’“ anführt (S. 14), könnte darauf hindeuten, dass es sich bei den ansonsten namenlosen Figuren um die Schwundstufen noch nicht oder nie geschriebener Geschichten handelt, um Angedachtes, in groben Umrissen Entworfenes, die strengstmögliche Reduktion von Erzählen. Freilich: Man weiß es nicht.
Was auch immer die ursprüngliche Textintention dieses ersten Teils sein mag, so stellt sich doch im zweiten Teil, den „neuen Geschichtchen“, heraus, dass die „Figuren“ jedenfalls einen programmatischen Charakter für den Rest des Bandes umreißen: Die Texte weisen eine ganz ähnliche Reduktion auf, was Figurenzeichnung und Handlungsverlauf betrifft. Statt zu erzählen, fasst Meder zusammen. Für Beschreibungen setzt er Behauptungen ein. Gleich im ersten Text heißt es zum Beispiel von einer Frau Winkler, sie habe „eine schwere, komplizierte Vergangenheit hinter sich“ (S. 18). Diese sieht so aus: „Nichts als Verdrossenheit, Unglück und Leid – nichts Erhebendes, Erheiterndes in all den Jahrzehnten – viel Mühsal, viele Enttäuschungen, viele Erniedrigungen.“ Das mag eine akkurate Synthese dessen sein, was die Figur erlebt hat.
Doch was war das eigentlich? Wurde sie von ihrem Mann verlassen, starb ihr der Wellensittich? Verbrannte ihr Haus, wurde sie überfallen? Über Details schweigt sich der Autor aus und speist den Leser stattdessen mit dem müden Witz ab, die gute Frau Winkler verkrieche sich deprimiert in den „traurigsten Winkel ihres Wohnzimmers“ (S. 19). So geht es munter weiter. Man erfährt von „langen, oft bewegenden Gesprächen“ (S. 26), aber nicht, was da besprochen wurde, von der unverblümten Art einer „scheinbar dynamische[n], unverdrossene[n], ehrgeizige[n]“ (S. 35) Frau, die diese Eigenschaften im Text leider nicht unter Beweis stellen darf, und von Delikten, die als „alles andere als appetitlich“
(S. 56) angeführt werden, wobei aber unklar bleibt, ob jemand zum Beispiel Schuhcreme als Nutella verkauft oder etwa einen Mitmenschen übelst drangsaliert oder sogar ermordet hat.
Meders Texte in Picks & Co erzählen nur wenig. Sie wirken wie Elemente eines privaten Zettelkastens, wie erste Notizen, aus denen eventuell, mit viel Arbeit und Mühe, Geschichten entstehen könnten. Zwar heißt es, weniger sei oft mehr, doch in diesem Fall wäre mehr eindeutig mehr gewesen.
Elise Schmit
Kategorien: Luxemburgensia
Ausgabe: 29.06.2012