Entgegen dem europaweiten Trend kam es bei den vorgezogenen Wahlen in Spanien nicht zum Rechtsruck. Doch die Lage ist seit Jahren kompliziert

Dagegen-Wähler

d'Lëtzebuerger Land vom 04.08.2023

Als letzter Spitzenkandidat war Alberto Nuñez Feijóo am Wahlsonntag 23. Juli kurz vor Mitternacht auf den aufwändig vorbereiteten Balkon der Parteizentrale des Partido Popular in Madrid gestiegen und ließ sich von seinen Anhängern feiern. „Wir haben die Wahlen gewonnen und die meisten Sitze, also fällt es uns zu, eine Regierung zu bilden, wie es in der spanischen Demokratie schon immer geschehen ist“, lautete sein Mantra, das er und seine Partei seither wiederholen. Kurz zuvor hatte allerdings auch Ministerpräsident Pedro Sánchez seinen Auftritt bei seinen Sozialdemokraten. Auf einer eher hastig aufgebauten Bühne zählte er, im legeren Jeanshemd neben seiner Frau Begoña Gómez stehend, auf, dass seine Partei mehr Stimmenprozente und Abgeordnetenmandate als noch vor vier Jahren geholt habe, sie also der Wahlgewinner sei. Dagegen sei „der rückwärtsgewandte Block, der alles zerstören will, was wir aufgebaut haben, gescheitert“. Zwei verschiedene Wahlgewinner aus zwei sich vehement bekämpfenden Blöcken, das kommt einem nicht wirklich spanisch vor.

Auch in Luxemburg fordern weite Teile der Konservativen, dass die meistgewählte Partei den Premierminister stellen solle. Doch dafür gibt es in den meisten Demokratien keine rechtliche Grundlage; Chef der Regierung wird, wer die Mehrheit der Abgeordneten hinter sich versammeln kann. Auf den veröffentlichten „netten“ Brief von Feijóo, in dem dieser den „lieben Pedro“ in wohlfeilen Worten weiter auffordert, Spanien nicht zu blockieren, nicht weiter zu spalten, in Verhandlungen einzuwilligen, um Feijóo als Premier zu ermöglichen, kommt vom amtierenden Regierungschef eine überfreundliche Belehrung an den „lieben Alberto“ zum verfassungsrechtlich vorgesehenen Weg: Nach der Einführung der beiden Kammern des Parlaments am 17. August müsse der König den geeigneten Kandidaten für eine Regierungsbildung auswählen, dieser sich dann die Unterstützung der Abgeordneten sichern. Doch das wird sehr schwierig, denn auch wegen der Stimmen der kleinen baskischen und katalanischen Regionalparteien stehen sich das linke und das rechte Lager in einer Pattsituation gegenüber. Die nötige absolute Mehrheit von 176 Stimmen im ersten Wahlgang ist wohl für beide Seiten unmöglich und selbst eine einfache Mehrheit bei einigen Enthaltungen im zweiten Wahlgang wird dieses Mal überaus kompliziert.

Vor wenigen Jahren war die politische Landschaft in Spanien übersichtlicher: Verkürzt gesagt, errangen nach dem Tod von Diktator Franco 1975 entweder die Sozialdemokraten (PSOE) oder die von Franco-Getreuen gegründete Alianza Popular, beziehungsweise deren Nachfolgepartei PP mit den baskischen oder katalanischen Regionalparteien als Königsmachern in einem faktischen Zweiparteiensystem abwechselnd die Macht. Erst nach vier Jahrzehnten brachte die Weltwirtschaftskrise mit den jahrelangen Millionenprotesten der Bewegung des 15. Mai gegen Austeritätspolitik und politische Korruption Anfang 2014 eine dritte große Partei hervor: die linksalternative Podemos. Ihr stellten wirtschaftsfreundliche Kreise bald die liberalen Ciudadanos entgegen, die eigentlich einer katalanischen Anti-Separatismus-Partei entwuchsen. Und es wurde wild.

Auch um von den zahlreichen Korruptionsskandalen bis in eigene höchste Kreise abzulenken und die nationalistische Wählerschaft hinter sich zu versammeln, gaben die Konservativen um Ministerpräsident Mariano Rajoy auf der einen Seite und die konservativen katalanischen Separatisten um Regionalpräsident Carles Puigdemont auf der anderen sich in der Katalonienfrage mehr als nur unnachgiebig, was in dem illegalen Referendum vom 1. Oktober 2017 gipfelte. Als dann aber im Korruptionsfall Gürtel die ersten Urteile gesprochen wurden, stellte Pedro Sánchez am 1. Juni 2018 die Vertrauensfrage gegen Rajoy und übernahm die Regierungsgeschäfte. Bis zu den Wahlen am 28. April 2019 konnte er mit ersten Gesprächen die Katalonienkrise entspannen. Die Konservativen stürzten auf den Minusrekord von 66 Abgeordneten ab, die Liberalen blühten mit 57 Sitzen kurz auf. Doch wegen der Katalonienfrage lehnten sie die logische Mehrheitsregierung mit den Sozialdemokraten ab und Sánchez wagte statt einer Minderheitsregierung mit Podemos lieber Neuwahlen.

Ein aggressiver rechter Wahlkampf zur Katalonienfrage, den ein selbsternannter „Verfassungsblock“ aus PP, Ciutadanos und der neuen Vox des ehemaligen baskischen PP-Politikers Santiago Abascal betrieb, machte 2019 nach 44 Jahren und maximal einem Abgeordneten eine rechtsextreme Partei mit 3,6 Millionen Stimmen, respektive 52 Abgeordneten salonfähig und führte Ciudadanos in der Bedeutungslosigkeit. Obwohl sie zusammen zehn Sitze verloren hatten, wagte Pedro Sánchez mit der Unterstützung oder Enthaltung der Regionalparteien erstmals in der spanischen Geschichte eine Koalitionsregierung. Nach vier Wahlen in knapp vier Jahren hielt seine progressive Minderheitsregierung sogar dreieinhalb Jahre. Doch nach dem massiven Rechtsruck bei den Regional- und Kommunalwahlen am 28. Mai dieses Jahres zog er die im Dezember anstehenden Parlamentswahlen in die Urlaubszeit vor.

Um die eigene Wählerschaft zu mobilisieren, setzte Sánchez auf den Schockeffekt der Wahlen vom Mai und die ersten Handlungen weit rechter Regionalregierungen und Rathäuser. Die Bilanz seiner Regierungszeit ist dabei nicht schlecht: Mit einem Wachstum über dem EU-Durchschnitt ist Spaniens Wirtschaft aus der tiefen Krise von 2007 endlich raus, während die Inflation mit 1,6 Prozent unter dem EU-Schnitt liegt. Irene Montero vom Koalitionspartner Podemos setzte eine spektakuläre Erhöhung des Mindestlohns von 735 auf 1 080 Euro durch. Dennoch wuchs die Zahl der Festanstellungen deutlich und die hohe Jugendarbeitslosigkeit sank. Mehrere Gesetze zu Gleichberechtigung, gegen Diskriminierung, auch ein liberaleres Abtreibungsgesetz und die aktive Sterbehilfe brachten das Land im Gleichstellungsindex der EU in die Spitzengruppe.

Doch die Regierung machte auch handwerkliche Fehler: Die vielen Streitereien unter den Koalitionspartnern war Spanien nicht gewohnt und Podemos-Gründer Pablo Iglesias zog sich nach gut einem Jahr als Vizepremier zurück. Das von dessen Frau Irene Montero verantwortete schärfere Gesetz zu sexuellem Missbrauch und Vergewaltigung vom Frühjahr 2022 hatte zur ungewollten Folge, dass fast 100 verurteilte Sexualstraftäter vorzeitig freikamen. Weil Pedro Sánchez auch die katalanischen Verurteilten des 1. Oktober 2017 begnadigte, fuhr der rechte Block einen Wahlkampf gegen den „Sanchismo“, der darin bestehe, Spanien für den Machterhalt an die Separatisten zu verkaufen.

Davon ist aktuell wieder in vielen Medien zu lesen, nachdem der rechte Block seine klare Mehrheit in den Umfragen an den Urnen nicht bestätigen konnte. Die noch Tage vor der Wahl verteilte Sonnencrème mit einem starken „Feijóo-Faktor“, der vor „Sol(Sonne)-cialismo“ schütze und den „Sanchismo“ abschaffe, wirkte nicht. Bei einem Rekord von 2,5 Millionen Briefwählern und insgesamt vier Prozent höherer Wahlbeteiligung verfehlte die PP mit 137 die erhofften mindestens 150 Sitze, mit denen sie unter Tolerierung durch Vox allein regieren wollte. Vox hat in „ihren“ Regionen bereits einige Theateraufführungen und Ausstellungen untersagt und die Regenbogenflagge an öffentlichen Gebäuden verboten. Vox verherrlicht die Franco-Zeit, will die „spaltenden“ neuen Frauen- und Minderheitengesetze wieder abschaffen, ebenso die europäische Agenda 2030 mitsamt dem Klimaschutz. Wie unter Franco soll Spanisch in Katalonien und dem Baskenland wieder klar an erster Stelle stehen, die Unabhängigkeitsparteien sollen verboten werden. Die Angst vor einer Rückkehr zu jenen Zeiten führte in Katalonien zum „voto útil“, der nützlichen Stimme.

Das spanische Wahlsystem begünstigt große Parteien, so dass viele katalanische Wähler die bestmögliche Strategie gegen den Rechtsruck vor ihre persönlichen Präferenzen setzten. Auch deshalb verloren die Unabhängigkeitsparteien knapp 700 000 Wähler an die beiden Regierungsparteien, was diesen entscheidende Abgeordnetenmandate brachte. Koalitionspartner Podemos war dabei in einer erst Anfang Juni hastig gebildeten Vereinigung „Sumar“ (Zusammenzählen) von rund 20 Links- und Umweltparteien aufgegangen und holte 31 Sitze, die PSOE 123. Zwar haben PP (137) und Vox (33) zusammen mehr, aber eben nicht genug. Wegen der autoritären zentralspanischen Ausrichtung seines Rechtsblocks versagen selbst die konservative baskische PNV und die katalanischen Junts Feijóo eine Tolerierung, so dass ihm Mitte dieser Woche die Regierungsoptionen ausgingen. Sánchez hingegen hofft, wieder genügend Unterstützung bei den Regionalparteien zu finden. Doch die fordern Gegenleistungen, und gerade die sieben Abgeordneten des ins Brüsseler Exil geflüchteten Carles Puigdemont sind der Schlüssel. Neben wahrscheinlichen Unterstützern wie dem linken katalanischen ERC müssten im zweiten Wahlgang auch zwei Abgeordnete von Junts für Sánchez stimmen und sich die fünf weiteren enthalten.

Das Geschachere ist in vollem Gange und Spanien aktuell wieder in seinem alten binären Schema. Allerdings mit kleineren, radikaleren festen Koalitionspartnern. Während einige Parteigranden Feijóo bereits auffordern, die rechtsextremen Stimmen wieder wie vormals in der PP zu integrieren. Und dann vielleicht wieder für die Konservativen unter den Königsmachern aus den Regionen anschlussfähig zu werden.

Chrëscht Beneké
© 2023 d’Lëtzebuerger Land