Fällt die Politikfindung schwer, soll nicht selten die Mathematik helfen. Vielversprechend scheint das vor allem dann, wenn das, worum es geht, sich gut abzählen oder sogar in Euro ausdrücken lässt. Ministerien und staatliche Dienststellen beschäftigen deshalb Mathematiker und Physiker. Anhand von Modellen, in denen Differenzengleichungssysteme die Realität abbilden sollen, simulieren sie am Computer, was wahrscheinlich künftig eintreten wird und was geschehen dürfte, falls man am Status quo etwas ändert.
Ein Bereich, in dem die Politikfindung nicht nur schwerfällt, sondern so heikel ist, dass eine falsche Entscheidung eine Regierungspartei den Sieg bei den nächsten Wahlen kosten kann, sind die Renten. Nicht zuletzt in Luxemburg, wo ab den Achtzigerjahren und bis 2002 die Renten für Beschäftigte im Privatsektor immer wieder erhöht wurden, um sie möglichst denen im öffentlichen Dienst anzugleichen. Da war es schon eine kleine politische Leistung der von 2004 bis 2009 amtierenden ersten Juncker-Asselborn-Regierung, keine weitere Rentenerhöhung zuzulassen. Der Juncker-Asselborn-Regierung II gelang 2012 sogar eine Pensionsreform, die erstmals seit drei Jahrzehnten den politischen Trend umkehrte.
Drei Jahre vorher hatte ein Bericht der EU gewarnt, bei unveränderter Politik würden die Pensionsausgaben hierzulande im Jahr 2060 rund 24 Prozent des Bruttoinlandsprodukts entsprechen. 2007 waren es 8,7 BIP-Prozent gewesen. Den Bericht hatte die Ageing Working Group geschrieben, eine Arbeitsgruppe der Generaldirektion Wirtschaft der EU-Kommission und des wirtschaftspolitischen Komitees beim Europäischen Rat. Die EU-Mitgliedstaaten entsenden in die Gruppe Ministerialbeamte mit Mathematiker- oder Physikerdiplom und Mitarbeiter von Statistikbehörden; Menschen, die es gewohnt sind, Politik-Optionen mathematisch nachzubilden. Alle drei Jahre produziert die Arbeitsgruppe einen Ageing Report – Economic and Budgetary Projections. Darin wird versucht, fünf bis sechs Jahrzehnte in die Zukunft zu blicken. In erster Linie geht es dabei um die Rentensysteme: Die kosten besonders viel Geld, müssen langfristig angelegt sein, um aktuell beruflich Aktiven eine Einkommensaussicht im Alter zu geben, und sie hängen von längerfristigen demografischen und volkswirtschaftlichen Entwicklungen ab. Und weil bei zunehmender Lebenserwartung der Bevölkerung die Zahl der Wähler im Rentenalter wächst, werden die Pensionssysteme politisch eher mehr denn weniger sensibel. Ein Glück für die Politik der Mitgliedstaaten, dass der Umgang mit dem heiklen Thema vergemeinschaftet ist, könnte man sagen. Denn wenn in der Ageing Working Group Mathematiker und Physiker aus allen Mitgliedstaaten gemeinsam über Modellen brüten, sollten ihre Projektionen am Ende besonders treffsicher sein und gerade für ein kleines Land wie Luxemburg besonders hilfreich.
Oder? Für die Juncker-Asselborn-Regierung II war der dritte Bericht der Ageing Working Group, der im Frühjahr 2009 herauskam, vermutlich hilfreich, als sie ihre Pensionsreform konzipierte. In der Legislaturperiode zuvor hatten CSV-Premier Juncker und LSAP-Sozialminister Mars Di Bartolomeo einander rhetorisch neutralisiert, wenn der eine ab und an vor der drohenden „Rentenmauer“ warnte, der andere vor „Reform-Schnellschüssen aus der Hüfte“. 2009 aber war die Welt-Finanzkrise zur Wirtschaftskrise geworden. Die Party mit dem Luxemburger Modell aus Souveränitätsnischen und einer dank der Einnahmen aus dem Tanktourismus staatlich bezuschussten Sozialversicherung, die niedrige Lohnnebenkosten und damit hohe Nettogehälter erlaubt, drohte für immer Geschichte zu werden. In seiner Regierungserklärung am 10. Juli 2009 kündigte Juncker nicht nur eine Pensionsreform an, sondern wollte sie schon bis Ende 2011 unter Dach und Fach haben.
Die Ageing Reports der Ageing Working Group enthalten einen demografischen, einen volkswirtschaftlichen und einen versicherungsmathematischen Teil. Die demografische Vorausschau wird aus Modellen gewonnen, die die EU-Statistikbehörde Eurostat für jeden Mitgliedstaat berechnet. 2009 wurde für Luxemburg ein Bevölkerungswachstum bis zum 700 000-Einwohnerstaat zwischen 2040 und 2060 vorhergesagt – vor allem durch einen Einwanderungsüberschuss, der zu den höchsten in der EU zählen werde. Gleichzeitig aber nehme zwischen 2008 und 2060 die Lebenserwartung 65-Jähriger um fünf Jahre zu, so dass der Anteil der 15-bis 64-Jährigen an der Bevölkerung (die als „im arbeitsfähigen Alter“ angesehen werden) von 68 Prozent auf 60 Prozent sinken werde – trotz Migrationssaldo.
Weniger gut sahen die Volkswirtschafts-Prognosen aus. Sie werden für die Ageing Reports aus Modellen der EU-Kommission bezogen. Lag das Beschäftigungswachstum 2007 in Luxemburg noch bei 3,1 Prozent, werde es bis 2020 auf 0,7 Prozent sinken. Das BIP-Wachstumspotenzial werde von 4,5 Prozent 2007 auf 2,7 Prozent bis 2020 schrumpfen und sich danach bei zwei Prozent einpendeln. Bei schwächer werdendem Beschäftigungswachstum müsse das BIP-Wachstum durch höhere Arbeitsproduktivitätsgewinne generiert werden, allerdings seien 2,7 Prozent Produktivitätszuwachs wie 2007 nie mehr zu erwarten; 2020 vielleicht zwei Prozent, aber danach nur noch 1,7 Prozent.
Mit welchen Rentenausgaben längerfristig zu rechnen ist, bestimmen für die Berichte der Ageing Working Group die Mitgliedstaaten anhand eigener mathematischer Modelle. Die Bevölkerungs- und Wirtschaftssimulationen von Eurostat und EU-Kommission beziehen sie dabei ein. Ob diese Simulationen plausibel sind, wird in der Ageing Working Group am Ende durch eine Peer review kontrolliert, in der Mathematiker, Physiker und Ökonomen die Resultate ihrer Kollegen aus anderen Staaten durchsehen. Die Aussicht, dass die Luxemburger Rentenausgaben bis 2060 auf 24 BIP-Prozent wachsen dürften, zog zum ersten Mal in einem Ageing Report auch die Grenzpendler mit in Betracht, die einerseits die Rentenkasse wesentlich mitfüllen, andererseits irgendwann das Pensionsalter erreichen. Der Bericht von 2009 gab an, dass der Zuwachs bei den Rentenausgaben um 15,3 BIP-Prozenptpunkte zwischen 2008 und 2060 zu 8,4 Punkten durch eine wachsende Zahl der Rentner gegenüber der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter verursacht werde und zu 5,2 Punkten durch einen sich verschlechternden Anteil aller Aktiven (Grenzpendler eingeschlossen) gegenüber den Rentenbeziehern. Um weitere 1,2 BIP-Punkte würden die Rentenausgaben außerdem durch Indextranchen und Anpassungen der Renten an die Reallohnentwicklung wachsen.
Die vielen Details wären weniger erwähnenswert, wäre im Frühjahr 2012 der nächste Bericht der Ageing Working Group nicht deutlich freundlicher für Luxemburg ausgefallen. Und das obwohl er von einem längerfristig leicht kleineren Einwanderungsüberschuss in der Bevölkerung ausging als der Ageing Report 2009 und von einem leicht kleineren Bevölkerungsanteil im „arbeitsfähigen Alter“ bis 2060. Die Wirtschaftsaussichten erschienen noch unerfreulicher. Die jährliche BIP-Wachstumsrate werde sich längerfristig nicht bei zwei Prozent, sondern bei 1,8 bis 1,7 Prozent einpendeln. Denn das jährliche Beschäftigungswachstum dürfte schon 2020 auf unter ein Prozent fallen und der Produktivitätszuwachs längerfristig nicht 1,7, sondern nur 1,5 Prozent betragen. Das war ein Wirtschaftskrisenszenario. Es lag der Pensionsreform zugrunde, die die Abgeordnetenkammer Ende 2012 verabschiedete. Die mageren Beschäftigungszuwachsaussichten wurden damals für realistisch gehalten. Die Produktivitätsprognosen erschienen den Unternehmerverbänden noch zu optimistsich. BIP-Wachstumsaussichten von unter zwei Prozent sahen zwar endgültig wie das Ende der fetten Jahre aus, aber irgendwie auch nach einer „reifen Volkswirtschaft“.
Da war es ziemlich erstaunlich, dass der Ageing Report 2012 dennoch schrieb, im Jahr 2060 würden die Rentenausgaben nicht bei 24 BIP-Prozent liegen, sondern nur bei 18,6 BIP-Prozent. Doch die Regierung hatte zu einem Kniff greifen können: Obwohl die Pensionsreform noch nicht verabschiedet war, floss sie in den 2012-er Bericht ein. Als die Gewerkschaftsfront aus OGBL, LCGB und CGFP im Frühjahr 2012 noch einmal mobil machte gegen die Pensionsreform und vor allem dagegen, dass die automatische Rentenanpassung gekürzt oder gestrichen werden könnte, sobald die laufenden Rentenausgaben der Pensionskasse die Einnahmen zu übersteigen drohten, hielt der Ageing Report 2012 in einer Fußnote bereits fest, 2019 werde in Luxemburg die Anpassung der bestehenden Renten an die Reallohnentwicklung mindestens halbiert.
Daran wird deutlich, unter welchem Druck seitens der EU die Regierung stand, das Pensionssystem zu reformieren. Es wirft aber auch die Frage auf, wie objektiv die Mathematik ist, die der Politik zur Seite stehen soll, und ob die Politik die Mathematik womöglich zu gegebener Zeit mit neuen Grundannahmen versorgt und wie das womöglich auf demokratische Willensbildungsprozesse einwirkt.
Zumal der dieses Jahr erschienene Ageing Report 2015 für Luxemburg geradezu Entwarnung gibt. Beschäftigungswachstum unter ein Prozent? Ja, aber nicht schon 2020, sondern erst 2050. 2020 wären es noch 2,7 Prozent. Ein BIP-Wachstum von weniger als zwei Prozent? Vielleicht in den 2050-er Jahren, bis 2020 dürften es drei Prozent sein. Zu den neuerlichen Party-Szenarien kommen Vorhersagen auf kräftiges Bevölkerungswachstum. Der Einwanderungsüberschuss von jährlich 10 000 bis 11 000 Personen, der in den letzten Jahren gezählt wurde, könnte bis Mitte der 2030-er Jahre anhalten. Im Ageing Report 2012 war nur ein Drittel davon für möglich gehalten worden. Und was die Rentenausgaben betrifft: Die werden 2060 mit geschätzten 13,4 BIP-Prozent beinah nur halb so hoch sein wie 2009, vor der Reform, veranschlagt, und um 28 Prozent unter dem liegen, was 2012 geschätzt wurde, als man die Reformauswirkungen schon einbezog. Die Party geht weiter, wie es scheint, wird irgendwann in den 2040-er Jahren aber in den Eine-Million-Einwohnerstaat führen. Bleibt zu hoffen, dass bis dahin Plans sectoriels für die harmonische Landesplanung ihre Wirkung entfaltet haben werden.
Eine gute Nachricht für die aktuelle Regierung sind diese Vorhersagen natürlich schon heute. Und vielleicht kannte sie im Juni 2014 zumindest in groben Zügen Pierre Gramegna schon, der frühere Direktor der Handelskammer, der die Pensionsreform 2012 nicht weit genug ging. Als Finanzminister erklärte Gramegna dem Quotidien am 4. Juni 2014, „man muss der Pensionsreform Zeit geben, ihre Mechanismen zur Wirkung kommen zu lassen“. Da hatte die EU-Kommission im Rahmen eines Europäischen Semesters gerade erneut weitere Einschnitte ins Luxemburger Rentensystem angemahnt. „Vielleicht unterschätzt sie den Umfang der eingeleiteten Reformen ja“, meinte Gramegna trocken.
Vielleicht aber malt der Ageing Report 2015 die Zukunft auch zu rosig. Zum Beispiel ist ihm zu entnehmen, dass Luxemburg an Eurostat für die Bevölkerungsprognose keine aktualisierten Daten lieferte. Und ob die Wirtschaftsvorhersagen wirklich triftig sind, muss sich zeigen, wenn etwa das Beschäftigungswachstum bis 2020 auf 2,7 Prozent jährlich zunehmen soll. Der Zuwachs der Beitragszahler zur Pensionskasse nahm zwischen 2011 und 2013 von 2,9 Prozent auf zwei Prozent ab. Und Beschäftigungszuwächse müssen nicht unbedingt dazu führen, dass an den neuen Stellen auch viel Geld verdient und hohe Beiträge an die Pensionskasse geleistet werden: Das mittlere beitragspflichtige Einkommen zur Rentenversicherung war vor Ausbruch der Krise stark gewachsen. Es hatte 2007 und 2008 um 3,5 Prozent beziehungsweise 3,7 Prozent zugelegt. 2009 erreichte der Zuwachs mit 4,2 Prozent einen Höhepunkt durch viele mit hohen Abfindungen in die Arbeitslosigkeit verabschiedete Banker. Anschließend sank der Zuwachs auf 2,2 Prozent und erhöhte sich bis 2013 wieder auf 2,9 Prozent. Ob die früheren Wachstumsraten noch einmal erreicht werden? Wer weiß. Sicher ist, dass atypische Beschäftigungsverhältnisse zunehmen: Interim-Verträge, Scheinselbstständigkeit und erzwungene Teilzeitarbeit. Jobs, aus denen weniger Sozialbeiträge entrichtet werden, betreffen mittlerweile 15 Prozent der Erwerbsbevölkerung.
Interessanterweise steht im Ageing Report 2015 nicht, ob den Rentenszenarien für Luxemburg eine Politik unterliegt. Dass ab 2019 die Rentenanpassung „mindestens halbiert“ wird, wie der 2012-er Bericht voraussetzte, scheint nicht mehr so wahrscheinlich. Die Pensionskasse geht mittlerweile davon aus, dass ihre laufenden Ausgaben die laufenden Einnahmen nicht schon 2018 übersteigen könnten, sondern erst Anfang der 2020-er Jahre. So stark wirkt die bessere Konjunkturlage sich schon aus.
Trotzdem scheint die Regierung sich davor zu fürchten, dass laut Pensionsreformgesetz alle fünf Jahre ein Bericht des Sozialministers den Stand der Dinge ermitteln und danach insbesondere über die Rentenanpassung entschieden werden soll. Der 2017 fällige Bericht soll schon nächstes Jahr erscheinen, damit er nicht zu nah an einen Wahlkampf gerät. Am Ende könnte die Mathematik der Politik weniger helfen, als man glaubt.