Vom Trauern

Das Zeitliche segnen

d'Lëtzebuerger Land du 30.10.2015

Liebe Tiere sterben aus, Kulturen und Sprachen natürlich auch. Wörter, sie schreien nicht um Hilfe, es gibt keine Vermisstenanzeige, niemand weint ihnen hinterher. Irgendwann, wenn man so ein totes oder halbtotes Wort in den Mund nimmt, wird man befremdet angeschaut: Diese Dame ist nicht von hier!

Niemand braucht mehr die Dinge, die sie bezeichnen, wer braucht die Wörter dann noch? Fischbeinkorsett zum Beispiel, wann habe ich mich zum letzten Mal mit den Hofdamen diesbezüglich ausgetauscht, in der Laube? Die trägt nur noch Conchita Wurst. Die Prinzessinnen haben kein ebenholzschwarzes Haar mehr, und wer sagt noch puter- oder purpurrot, karmesinrot, rubin- oder zinnoberrot? Jetzt ist es eben rot, hell oder dunkel oder knall, basta. Wahrscheinlich weiß niemand mehr, was ein Puter ist, oder ein Ebenholz, und, logisch, da höchstens noch demonstrativ aufkochende Hausherrn Schürzen tragen, gehören auch die Schürzenjäger_innen zu den bedrohten Arten.

Manche Wörter verabschieden sich auch ohne offensichtlichen Grund, warum sind die Halbstarken und die Beatelssen weg vom Fenster? Obschon es Vertreterinnen des schwachen Geschlechts dieser Altersgruppe immer noch gibt, war der Backfisch irgendwann altbacken geworden. Auch der Teenager ist nicht mehr wirklich modern, und was ist unmoderner als das Wort modern? Selbst out ist schon out.

Da Wöchner_innen heute ruckzucki aus dem Wochenbett geschmissen werden, kaum dass sie gekreißt haben, kann es sie nicht mehr geben. Dass Vatermörder mausetot sind, ist verschmerzbar, auch dass die Blattern und die Ruhr sich vertschüsst haben, die einst für Poet_innen obligatorische Auszehrung, der Tod kann ruhig aussterben. Leider kommt ein neuer Trendtod nach, todsicher. Aber warum will niemand mehr einen Weltschmerz, warum trägt keine mehr Melancholie oder Schwermut und lässt sich stattdessen mit einer Supermarkt-Depression abservieren? Und warum ist meine geliebte Heiterkeit auf der Liste der gefährdeten Wörter? Weil der globale Spaß ihr den Garaus gemacht hat?

Wo sind Geschmeide und Kleinodien geblieben, die sich um Schwanenhälse ranken? Anmut und Liebreiz werden nicht mehr gerühmt, moderne Frau tut so was nicht mehr, ist das nicht mehr. Moderner Mann gottlob aber sehr wohl, also holde Knaben, wohlan! Ein ehrwürdiger Greis will auch partout keiner mehr sein, schlohweißes Haar, zerfurchtes Antlitz, Zähren rinnen beim Sinnen, die Zielgruppe erwünscht sich andere Zuschreibungen. Keiner will mehr betagt sein oder umnachtet.

Welch ein Wellness-Wortschatz, damals, als sich die Menschen noch ergingen, sich gütlich taten, sich erquickten, labten und ergötzten! Als sie noch speisten, verzehrten, vertilgten und tafelten, statt immer nur, gähn, zu essen.

Auch beim Sterben ging es wesentlich abwechslungsreicher zu. Ganz gewöhnliche Menschen segneten das Zeitliche, welch eine grandiose Geste. Sterbende schieden dahin, verblichen, Friedhofsrosen blühten auf ihren Wangen, das letzte Stündlein hatte ihnen geschlagen, sie taten ihren letzten Atemzug, hauchten ihr Leben aus. Wurde einer gekillt, wurde er entleibt. Als Entseelter blieb er zurück. Für die sterblichen Überreste gab es Gottesäcker. Keine Menschenseele hätte jemals wegwerfend von Leichenteilen gesprochen. Eine verheißungsvolle, sterbliche Hülle gab es stattdessen, etwas würde enthüllt werden, etwas garantiert Unsterbliches.

Dauernd sterben Wörter aus, warum auch nicht, soll man sie einbalsamieren oder einfrieren? Das zeigt ja nur, wie quicklebendig die Sprache ist, neue Menschen sprechen neu. Sicher beschäftigen sich Philologen in ihren Philologenlogen liebevoll mit ihnen, eine Gesellschaft zum Schutz aussterbender Wörter wurde auch schon gegründet, sogar eine zum Schutz bedrohter starker Verben. Das sind Menschen, die sich dafür engagieren, dass der Bäcker buk und der Fragende frug. Die meisten von uns haben aber anderes zu tun, so vieles muss vor dem Aussterben gerettet werden, jeder Einzelne ist schließlich vom Aussterben bedroht.

Aber ein bisschen Nachrufen, den vom Winde verwehten Wörtern nachwinken, beim Lustwandeln durch den welken Hain – welch ein Labsal für die Greisin!

Michèle Thoma
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