Ich war ein Mal auf der Buchmesse, also auf der Buchmesse. Auf den anderen kein Mal. Vor langer, langer Zeit war das, damals, als die ausgelaugten, ausgesaugten Siebziger gerade in die schnellen, grellen Achtziger gekippt waren.
Vor allem war ich auf der Gegenbuchmesse, heute gibt es, wenn ich den Infos aus Gugglistan glauben soll, eine Gegenbuchmasse, was ich wortkosmetisch gesehen nicht als Verbesserung empfinde. Und meine Gegenbuchmesse, es hat sie gegeben, ich schwöre, ist im Nebel der Stein- und Papyruszeit verschwunden, vielleicht bin ich die letzte Zeitzeugin.
Egal, sie fand gegenüber der Buchmesse statt. Dort sammelten sich alle, die gegen den herrschenden Literaturbetrieb waren, dagegen waren sie oder wir vor allem, weil wir dort nicht vorkamen. Klein- und Kleinstverlage stellten auf der Gegenbuchmesse aus. Proletarische Schreibwerkstätten veranstalteten Lesungen, in denen echte Arbeiter_innen die Ödnis und Unterdrückung proletarischen Alltags schilderten, Fließband- und Fabrikarbeit, das gab es damals noch. Die Schilderungen sollten realistisch sein, möglichst öd, was sie meistens auch waren.
Die bürgerliche Dekadenz war aber Gottseidank auch ausgiebig vertreten. Die Lyrik wucherte, selbstgebackene, halb gebackene Gedichte wurde einem auf mit Schreibmaschine betipptem Papier in die Hand gedrückt. Die Klitoris war neulich zur Göttin ernannt worden, der penetrante Phallus hingegen hatte bei manchen Verlegerinnen einen schweren Stand. Glücksstrahlende, schwule Liebespärchen schwebten, konventionelle schienen ausgestorben. Unter dem Motto „Aufstehen!“ feuerte eine Anführerin im Rollstuhl die Krüppelbewegung an, die sich selber aus Protest gegen die kuschelweiche Heuchelsprache so nannte.
Ich las ein paar Freiwilligen etwas vor, was die Welt nicht wesentlich veränderte. Mein Leben auch nicht.
Zwischendurch trollte ich mich zur richtigen Buchmesse, in mit Menschen und Büchern vollgestopfte Container. Ich lief auf und ab, fuhr sehr viel Rolltreppe, manchmal erhaschte ich den Anblick eines Schriftstellerstars, der Hof hielt, oder eines mittelbekannten, der in einem dieser halbtoten zwischen Stellwänden geschaffenen Winkel Autogramme gab oder irgend etwas abwickelte, vielleicht einen Vertrag oder, wie ich argwöhnte, ein Geschäft. Wahrscheinlich würde er oder sie sich dafür im Feuilleton rechtfertigen, es war die Zeit, als die Autor_innen, zumindest die aus dem traditionell fürs schlechte Gewissen zuständigen deutschsprachigen Raum, sich immerzu zerknirscht dazu äußerten, dass sie an etwas so Profanem oder Profitorientiertem wie der Frankfurter Buchmesse teilnahmen. Seitenweise im Kulturfeuilleton. Auf die Gegenbuchmesse hatten die ein bisschen bekannten Autor_innen dennoch wenig Lust, nicht einmal die lockigsten Rebell_innen.
Meistens war mir zu warm oder ich suchte eine Toilette, körperliche Bedürfnisse suchten mich heim, die geistigen blieben allmählich auf der Strecke. Willenlos konnte man vor sich hin traben, in einer zugleich hektischen und betäubenden Atmosphäre, hin und wieder setzte ich mir ein Ziel, das soll man angeblich im Leben haben, eine umjubelte, lateinamerikanische Schriftstellerin zu erspähen, der Predigt eines deutschen Autors zu lauschen, Ziele, unerreichbar wie der Mond. So viele Bücher türmten sich unüberwindbar, stapelten sich, lockten als Leckerlis, der Appetit verging mir, kaum dass ich angebissen hatte. In manchen Hallen gähnte aber freundlich die Leere, die Menschen auch. Wenn ich mich recht entsinne, gab es einen oder mehrere Luxemburger Verlagsstände, an denen ich vorbei lächelte, es war nett dort, ein bisschen einsam.
Immer wieder versuchte ich, ein Buch in die Hand zu nehmen, einen Blick hinein zu werfen, aber es gelang mir nicht, sinnerfassend zu lesen. Es war einfach nicht das Ambiente. All diese Schinken, Wälzer, Folianten, die Kochbücher, Klassiker, die Belletristik, die Renner, die Seller, Megaseller, der ganze Bestsellerie, die Lebens- und Sterbehilfe, das Buch der Saison, das optimale ultimative, all dieses „Hier bin ich, nimm mich, reiß mich auf“ schreiende Geschreibsel machte mich fertig. Irgendwann stand ich auf einer Brücke, von der ich in einen braunen Fluss schaute, der friedliche Falten warf.