In der Festung ist Stress pur angesagt. Plötzlich, urplötzlich, gerade war noch Sommer und die Insassen posteten appetitlich lackierte Zehennägel, sind da ganz viele Neue. Sie sind überall, zumindest in den Köpfen, eben waren sie noch im Fernsehen, warum sind sie nicht dort geblieben?
Der Türmer erklimmt den Turm. Beklommen späht er über Kartoffeläcker und Kirchtürme, hektisch dreht er am Fernsehrohr, ihm wird mulmig zumute. OMG! Horden von Männern! Jungen. Das sind sicher die, vor denen greise weiße, nicht unbedingt weise Männer seit Jahren warnen. Sie sind mager, fremdländisch dunkel und sehr schnell. Sie wandern. Völkerwandern, denkt es respektvoll in ihm, Hunnen, Ostgoten und Vandalinnen tauchen aus seiner DNA und seinem kollektiven Unterbewusstsein auf. Er bläst in sein Horn, dass es über die Fluren schallt, bis in die Einkaufszentren hinein. Diese Wanderer haben ein Ziel, das ist dem Türmer klar. Wenn sie schon keine Autos haben, nicht mal Panzer. Sie tragen auch keine Rüstungen, keine Krummsäbel. Sie tragen beinahe nichts, nur Kinder. Auch Weiber gibt es unter ihnen, sogar Greis_innen, der Türmer versteht die Welt nicht mehr. Ihm wird eigen zumuth, er ist auch nur ein Mensch.
Alsbald, nachdem der Türmer seine beunruhigenden Beobachtungen mitgeteilt hat, hebt hektisches Treiben an. Die Grenzposten fangen an, die Palisaden hochzuziehen, Wassergräben auszuheben und unüberwindliche Hindernisse zu schaffen, die Menschenkörper verlässlich verletzen, zerfetzen. Vielleicht, so hofft man in der Festung, reisen sie dann woanders hin.
Wahrscheinlich, brüsten sich die in der Festung, kommen die zu uns, weil es sich herumgesprochen hat, dass man hier im Regelfall weder bombardiert noch gefoltert wird, man sich sogar lieben darf, egal was man für eine ist. All das Tolle, dessen sich die ewig meckernden Insassinnen gar nicht mehr bewusst sind. Dafür nehmen sie die schlimmsten Gefahren auf sich, überwinden Drachen und sogar maskierte Menschen, so genannte Ungarn. Viele verlieren dabei sogar ihr Leben, geht die Kunde. Es gibt Geschichten, die durch die Mauern der Festung dringen bis in die Herzen, Geschichten, die so traurig sind, dass die Menschen weinen und plötzlich wieder was anderes meinen.
So ist es auch der mächtigsten Königin im Festungsreich ergangen. Sie weiß, das haben berittene Boten ihr schon zugeflüstert, dass beinahe alle diese Menschen mit dem einzigen Begehr unterwegs waren, zu ihr zu kommen. In ihr mächtiges, rationelles Reich im Herzen Europas,
Jetzt muss auch die Königin ein bisschen weinen, weil wieder etwas schrecklich Trauriges passiert ist, den Menschen, die zu ihr wollten. Sie schneuzt sich und lädt mit ihrer frisch gewaschenen Stimme alle verfolgten Menschen ein. Dann lächelt sie unter Tränen, und sie und ihre Landsleute lachen und weinen und öffnen Herzen und Türen. Sie schenken den Zuflucht suchenden Menschen Kuscheltiere. Sie fühlen sich gut wie lange nicht. Natürlich ist so eine Königin auch pragmatisch, sie denkt, dass die mageren Jungs dynamischer sind als viele der schimpfenden Couch-Potatoes in ihrem Reich.
Das Rationelle Reich ist auf einmal das Land des Lächelns. Das Bild der guten Königin der Kuscheltiere geht um die Welt. Magere, dunkle Jungs legen den Arm um sie, und die Armen und Unterdrückten der Welt nennen sie Mother Mörkel, ein verfolgtes kleines Mädchen wird auf den Namen Mörkel getauft..
So schön kann es natürlich nicht weiter gehen, bald gehen die Kuscheltiere nach Hause, und die Menschen mit den selbstgemalten Schildern. Die maskierten Ungarn schweigen weiter, eisern wie der Vorhang, an dem sie rackern. Es kommt zu Palastrevolten in der arg bröseligen Festung, die Bajuwaren lehnen sich auf, der Ostblock ostblockt ab. Die Königin macht schnell die Tür zu, aber nicht ganz. Sie lässt es offen.
Vor der Festung sammeln sich immer mehr Menschen. Das hat sich jetzt herumgesprochen.