30 Jahre „Waldsterben“

Kahle Säuresteppen

d'Lëtzebuerger Land vom 05.08.2011

Das „Waldhaus“ am Stadtrand von Freiburg im Breisgau versinkt fast im satten Grün des Schwarzwalds. Auf den alten Plakaten aber, die dort gerade gezeigt werden, ragen dürre Äste in den Himmel; „Es ist später als Sie denken“, drohen vergilbte Flugblätter: „Heute Tannen – morgen wir!“ Die Ausstellung informiert über das umwelthistorische Forschungs-projekt Und ewig sterben die Wälder, das noch bis zum Herbst an der Universität Freiburg läuft.

Ende der 1970-er Jahre waren in Deutschland „neuartige Waldschäden“ entdeckt worden, selbst in Reinluftgebieten fern von jeder Industrie. Professor Bernhard Ulrich alarmierte 1981: „Die ersten Wälder werden in den nächsten fünf Jahren sterben, sie sind nicht mehr zu retten.“ Bei der Öffentlichkeit, damals ohnehin durch Anti-Atom-Proteste aufgewühlt, schlug das „Waldsterben“ ein wie eine Bombe. Der Stern titelte „Über allen Wipfeln ist Gift“, der Spiegel startete die Serie „Saurer Regen über Deutschland“, auch die FAZ sah „Säuresteppen“ voraus. Die Zeit lamentierte „Noch 20 Jahre deutscher Wald?“, was aber nur eine rhetorische Frage war, denn „an der Diagnose gibt es nichts mehr zu deuteln“. Der Hessische Rundfunk prophezeite für 2010 kahle Hügel und unbewohnbare Alpen.

Die Wald-Debatte krempelte Deutschland um: Von Marxisten bis zur CSU sprang alles, was sich bewegen konnte, auf den Öko-Zug. Demonstranten schoben schwarz gestrichene Kinderwagen durch die Innenstädte. Auf der ZDF-Schallplatte Mein Freund, der Wald sang Reinhard Mey: „Es gibt keine Maikäfer mehr.“ Auf dieser Welle kamen die Grünen 1983 erstmals ins Parlament und überreichten dort einem säuerlichen CDU-Bundeskanzler einen verdorrten Tannenzweig. Bloß Greenpeace verpennte das Desaster zunächst: Die PR-Profis fanden, entlaubte Mittelgebirge seien zu regional, zu unwichtig im Vergleich mit Atomgefahr, Robbenmord oder Waljagd. Darauf spalteten sich deutsche Greenpeaceler ab, gründeten die Konkurrenz Robin Wood und hissten auf Schloss Neuschwanstein das Transparent „Rettet die Heimat!“

Nirgends erregten abgestorbene Äste so viel Aufsehen wie in Westdeutschland. Während 1984 im Schwarzwald 70 bis 100 Prozent aller Bäume als „geschädigt“ ein-gestuft wurden, stapften Förster auf der anderen Rheinseite durch die Vogesen und fanden nichts Be-sonderes. „Die Franzosen bekamen keine Abgase von osteuropäischen Braunkohlekraftwerken, sondern saubere Luft vom Atlantik. Auch sonst fühlten sie sich weniger be-troffen“, erläutert der Luxemburger Historiker Laurent Schmit, der sich an dem Freiburger Projekt mit einer Dissertation zum „Waldsterbens-diskurs in Frankreich“ beteiligt. Entsprechend schwierig war es, Rauchgasentschwefelung für Kraftwerke und Abgaskataly[-]satoren für Autos in der EG durchzusetzen.

Ob es überhaupt jemals großflächig neuartige Waldschäden aufgrund von Luftverschmutzung gegeben hat, bleibt umstritten. Deutschland gab bis 1995 rund 230 Millionen Euro für die Erforschung von über 100 verschiedenen Ursachen-Hypothesen aus. Einigen können sich die Wissenschaftler bis heute nicht. Manche tippen auf natürliche Pilzkrankheiten, Frost- und Hitze-schäden. Das Beurteilungskriterium Blattverlust („Baumkronenverlichtung“) galt vielen von Anfang an als ungeeignet. Trotzdem veröffentlichte die Bundesregierung noch lange Jahr für Jahr einen darauf beruhenden „Waldschadensbericht“. Erst die grüne Landwirtschaftsministerin Renate Künast erklärte dann 2003 das „Waldsterben“ offiziell für beendet.

Ein Teil der 132 Umweltforscher, die vor 30 Jahren einen dramatischen Appell an die deutsche Regierung gerichtet hatten, ist überzeugt, dass der massenhafte Baumtod durch die daraufhin verstärkten Umweltschutzanstrengungen verhindert wurde. Andere distanzieren sich heute davon. „Die Debatte zum Waldsterben zeigt, dass Wissenschaft keine ‚sicheren’ Ergebnisse produziert“, findet Laurent Schmit. „Für Politiker ist das ein Problem, zum Beispiel bei der Klima-Diskussion.“

Die Umweltbewegung sattelte nach Tschernobyl auf andere Themen um. Der Forst leidet heute nicht mehr an saurem Regen aus Kraftwerksschloten, sondern eher an Überdüngung durch Stickstoff. Nach der letzten Inventur legen derzeit in Baden-Württemberg Schwarz- und andere Wälder im Schnitt 33,6 Kubik-meter zu – jede Minute. Zu schnell wachsende Bäume sind zwar nicht unbedingt gesund, können aber Menschen, die in Pellet-Heizungen investieren, nur schwer als Katastrophe vermittelt werden.

In Freiburg ist noch bis zum 14. August die Ausstellung Erst stirbt der Wald... zu sehen: www.waldsterben.uni-freiburg.de.
Martin Ebner
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