Grundrechte Seit fast 30 Jahren leitet Chantal Reinert (53) mit ihrem Mann Francis Bettendorf einen Elektrikerbetrieb. Begonnen haben sie zu zweit in Consdorf. Vor 20 Jahren sind sie in ein großes Bauernhaus nach Christnach umgezogen. Heute zählt das Familienunternehmen rund 50 Angestellte. Eine soziale Unternehmenskultur sei ihr und ihrem Mann immer wichtig gewesen, doch für Politik habe sie sich nie interessiert, erzählt Reinert im Gespräch mit dem Land. Sie habe sich um ihre fünf Kinder und um ihre Pferde gekümmert, ihre Freizeit habe sie „mit Freundinnen verbracht“, regelmäßig organisiert sie Verkaufsabende für Thermomix-Geräte. Gewählt hat sie DP und LSAP, weil sie „denen am meisten geglaubt hat“. Über Grundrechte und Freiheiten hat sie sich nie Gedanken gemacht. Im Frühjahr 2020 hat sich das schlagartig geändert.
Schuld ist Covid-19. Nicht, weil sie oder ein Mitglied ihrer Familie schwer krank wurde. Die Corona-Politik der Regierung hat sie gestört. Das ewige Hin und Her, die Ungewissheit, die Inkohärenz der Maßnahmen. Am meisten geärgert hat sie sich über die Ausgangssperre, als ihr Sohn abends seine Freundin nicht mehr guten Gewissens besuchen konnte. Dabei sei diese Einschränkung nicht nötig gewesen, denn Kneipen, Restaurants, Sport- und Kultureinrichtungen hätten eh geschlossen gehabt. Die Ausgangssperre habe sie an Krieg erinnert, an Bomben, vor denen man sich verstecken muss. In dem Moment sei ihr bewusst geworden, dass es Grundrechte gibt.
Nora Pleimling (36) ist ausgebildete Erzieherin. Auch sie wohnt mit ihrer Familie in Christnach. Chantal Reinert kennt sie schon länger, ihre Kinder sind gemeinsam zur Schule gegangen. Vor einem Jahr hätten sie festgestellt, dass die Vorgaben von Bildungsminister Claude Meisch (DP) zur Maskenpflicht nicht kohärent und wenig sinnvoll gewesen seien, sagt Chantal Reinert. Ihre Kinder hätten die Regeln nicht mehr nachvollziehen können und sie selbst eigentlich auch nicht. Die Kinder ohne logische Erklärung dazu zu zwingen, sogar im Schulhof eine Maske zu tragen, widerspreche ihrer Vorstellung von Erziehung. Deshalb haben die beiden Mütter gemeinsam beschlossen, ihre Kinder aus der Schule zu nehmen und sie zuhause zu unterrichten. Nora Pleimling hat deswegen ihre Anstellung beim Seniorenklub Syrdall gekündigt.
Gleichzeitig wurden beide auf den sozialen Netzwerken aktiv. Im September 2020 gründeten sie auf Facebook die private Gruppe „Elteren, Enseignanten, Educateuren an Etudianten stinn op“, in der sie über Masken und die Covid-Impfung „aufklären“. „Fir eng gesond physesch an psychesch Entwécklung vun den Kanner: keng Maskenflicht, keen Ofstand, keng Impfpflicht“, heißt es in der Gruppenbeschreibung. Neben Chantal Reinert sind zwei ihrer drei erwachsenen Kinder als Administrator/innen aufgeführt. In der Gruppe geht es nicht nur um „Aufklärung“, sondern auch um Vernetzung; sie zählt inzwischen über 2 300 Mitglieder.
Widerstand In diesem digitalen Netzwerk des Widerstands gegen mutmaßlich freiheitsberaubende Coronamaßnahmen haben Chantal Reinert und Nora Pleimling in den vergangenen Monaten viele neue Bekanntschaften geschlossen. In sozialen Medien und Messenger-Diensten wie Facebook oder Telegram ist eine kleine „Szene“ entstanden. Viele von ihnen nehmen an der Marche blanche teil. Zuschreibungen wie Corona-Leugner/innen, Impfgegner/innen und Verschwörungstheoretiker/innen empfinden sie als Beleidigung. Diese Begriffe würden nur benutzt, um Menschen zu diskreditieren, die „kritisch denken und bestimmte Sachverhalte hinterfragen“. Viele von ihnen seien nicht grundsätzlich gegen Impfungen, sie lehnten nur die derzeit verfügbaren Impfstoffe gegen Covid-19 ab, weil sie noch „in der Testphase“ seien. Geimpfte seien bei ihnen trotzdem willkommen. Gemeinsam wollen sie sich „gegen die Spaltung des Volkes durch die Regierung“ einsetzen.
In dieser virtuellen Szene haben die beiden Frauen aus Christnach Patrick Mischel (54) aus Berburg und Sasha Borsellini (27) aus Esch/Alzette kennengelernt. Der Eisenbahner Mischel, ein „entfernter Verwandter“ der ADR-Politikerin Sylvie Mischel, ist in der Anfang September gegründeten privaten Facebook-Gruppe „(Un)vaccinated – together stronger“ aktiv, die Menschen dabei helfen will, sich zu vernetzen und „net ënnert dem Drock anzebriechen“, wie es in der Beschreibung heißt. Sie zählt rund 3 500 Mitglieder. Giichtchen Borsellini, der sich in Videos und Texten auf Facebook als rechtsliberaler Freiheitskämpfer gegen die Corona-Diktatur inszeniert, hilft als Moderator aus. Als Symbolbild benutzt die Gruppe eine vorgereckte Faust, die eine Spritze zerbricht; der Leitspruch darunter lautet #UnvaccinatedLivesMatter.
Zusammen mit Reinert und Pleimling bilden Mischel und Borsellini den Kern des Initiativkomitees, das am 22. Oktober von ihrem verfassungsverbrieften Recht Gebrauch gemacht hat, ein Referendum über das erste Kapitel der Verfassungsreform zu erwirken, das die Abstimmung der Abgeordnetenkammer in zweiter Lesung ersetzen soll. Damit dieses Ziel erreicht wird, müssen zwischen dem 19. November und dem 20. Dezember mindestens 25 000 Wähler/innen sich in das Rathaus ihrer Wohngemeinde begeben und die Initiative mit ihrer Unterschrift unterstützen. Neben den vier bereits genannten gehören dem Komitee noch vier weitere Mitglieder an: Fritz Bettendorf (59), Ehemann von Chantal Reinert, und Henri Mehlen (72), Vater von Nora Pleimling und Cousin des früheren ADR-Abgeordneten Robert Mehlen, fungieren weitgehend als Statisten, um die Reihen zu füllen. Gérard Koneczny (60), CSV-Mitglied und Initiator der von konservativen Motiven geleiteten Petition 2007 „E Referendum iwwert ons Verfassungsreform“, die fast 20 000 Unterstützer gefunden hat, wurde erst im letzten Moment aufgenommen. Andere Mitglieder erklären gegenüber dem Land, man wisse nicht genau, „wo Koneczny auf einmal hergekommen ist“, eigentlich habe man bislang nichts mit ihm zu tun gehabt.
Präsident Es war der Präsident des Initiativkomitees, Luc Deitz, der Koneczny aufnahm, wohl vor allem wegen des Erfolgs seiner Petition. Deitz ist promovierter Philologe, studierter Philosoph und hauptberuflich Leiter der Handschriften- und Zimelienabteilung der Nationalbibliothek. Präsident des Initiativkomitees sei er vor allem aus praktischen Gründen geworden. Als Akademiker traue er sich zu, einen Text fehlerfrei aufzusetzen; eine Postfiliale sei bei ihm gleich um die Ecke, was die Versendung von Briefen per Einschreiben erleichtere. Mehr Macht als die übrigen Mitglieder habe der Präsident aber nicht, betont Deitz. Von den anderen „Aktivist/innen“ unterscheidet er sich nicht nur durch seinen hohen formalen Bildungsgrad. Deitz war eigenen Aussagen zufolge noch nie auf einer Marche blanche, er ist weder auf Facebook noch auf anderen sozialen Medien präsent, er benutzt nicht einmal ein Smartphone. Seine Mitstreiter habe er erst kürzlich über Mundpropaganda in seinem persönlichen Bekanntenkreis kennengelernt. In einer Partei oder einem anderen Verein sei er nicht Mitglied; er lebe sehr zurückgezogen. Im Gespräch mit dem Land bezeichnet er sich als „Mann der Schrift und der Wörter“, zitiert Kant und Thukydides.
Deitz mag zwar kein „Impfgegner“ sein, doch „ideologisierte Mainstream-Gesinnungsjournalisten“ und „staatsfinanzierte und instrumentalisierte Medien“ würden ihn gemeinhin als „Klimaskeptiker“ bezeichnen. Den Notstand und den menschengemachten Klimawandel zweifelt er an, Eiszeiten und Klimaerwärmung habe es schon immer gegeben. Das eigentliche Problem sei die Überbevölkerung, sagt Deitz. Dagegen würden auch theoretisch ideologisierte Ziele wie die Preiserhöhung auf fossilen Brennstoffen nicht helfen. „Ich gehe zu Fuß, trenne meinen Müll, bin für den Wald, für die Tiere und für gesunde Luft, aber die Mittel, die mantisch orakelhaft beschworen werden, sind nicht die richtigen“, erläutert der Altphilologe seine Ansichten. Deshalb ist er dagegen, dass Klimaneutralität als Staatsziel in die Verfassung eingeschrieben wird. Auch Chantal Reinert und Nora Pleimling stören sich an manchen „politischen Zielen“, die laut Deitz nichts in einer Verfassung zu suchen hätten und per Gesetz geregelt werden sollten. „Manche Abgeordnete wollen, dass das Benzin vier Euro pro Liter kostet. Das gibt uns zu denken. Wie sollen Leute mit Mindestlohn das noch bezahlen?“, fragt die Unternehmerin.
Darüber hinaus lehnen die beiden Frauen vor allem die Disposit-ionen über die Familie ab, die im Zuge der Reform verändert werden sollen. Dass Tierschutz als Staatsziel in der Verfassung verankert wird, finden sie hingegen gut. Deitz befürchtet seinerseits, dass der Luxemburger Staat in den neuen Texten zuviel Macht an die EU-Kommission abgibt und teilt die umstrittene Interpretation der ADR, mit der Reform werde das „Ausländerwahlrecht“ durch die Hintertür eingeführt.
ADR Obwohl viele Argumente der Referendumsaktivist/innen denen sehr ähnlich sind, die der Abgeordnete Fernand Kartheiser in den traditionellen und seine Lebensgefährtin Sylvie Mischel in den sozialen Medien verbreiten, weisen die meisten Mitglieder des Komitees den Vorwurf, von der ADR gesteuert zu sein, vehement zurück und wollen nicht mit der Partei in Verbindung gebracht werden. Chantal Reinert bekräftigt gegenüber dem Land: „Ich folge nicht der ADR, ich benutze sie solange sie mir dient, indem sie das gleiche will wie ich, nämlich ein Referendum. Tut sie das nicht, ist die Partei mir ganz egal.“ 2023 will sie zwar erstmals ADR wählen, aber nicht weil sie sich der Partei nahe fühlt oder sich mit ihrem Programm identifiziert, sondern weil einige Mitglieder sie bei der Referendumskampagne praktisch unterstützt haben und sie mit Sylvie Mischel zusammen Unterschriften gesammelt hat. Ihre Einstellung zur Monarchie („wenn sie die Monarchie absägen, ist nicht viel verloren“) und zur politischen Beteiligung von Nicht-Luxemburger/innen („es ist schade, dass nur Wähler/innen an einem Referendum teilnehmen können“) dürften mit den „Werten“ der ADR nur bedingt vereinbar sein.
Formell distanziert auch Deitz sich von der ADR. Er sei nicht Mitglied der Partei, doch wenn er beim Lesen der reformierten Verfassungstexte zu ähnlichen Schlussfolgerungen komme wie Kartheiser, liege das auch daran, dass bislang die ADR als einzige Partei überhaupt Argumente vorbringe. Die vier großen Parteien hätten es in den vergangenen Jahren versäumt, die Bürger/innen angemessen und ausführlich über die Verfassungsreform zu informieren.
Auf der Internetseite der Kammer finde man zwar alle Texte, doch für Normalbürger sei es gar nicht so einfach, sich in diesem „geschwollenen Affekotefranséisch“ zurechtzufinden, sagt Pleimling. Deshalb hat sie alle vier Kapitel auf Deutsch übersetzt. Trotzdem verstehe sie immer noch nicht, was „zwischen den Zeilen“ stehe. Diese Interpretation müssten Jurist/innen machen und die Leute anschließend darüber aufklären: „Wir brauchen Informationsabende in einer Sprache, die das Volk versteht“.
Tatsächlich hat sich das Volk in den vergangenen Jahren aber kaum für die Versfassungsrevision interessiert. Als die CSV 2019 damit drohte, die Abstimmung zu sabotieren, und die vier großen Parteien sich in der Folge darauf einigten, kein Referendum durchzuführen, hat die Presse ausgiebig darüber berichtet, doch eine allgemeine Empörung hat das nicht ausgelöst. Das nun in Teilen der Bevölkerung gestiegene Interesse an der Verfassung führen Nora Pleimling und Chantal Reinert auf die Freiheitseinschränkungen während der Pandemie zurück. „Seit einigen Monaten ist das Vertrauen in die Politik etwas angeschlagen“, sagt Reinert. Deshalb sei jetzt ein ungeeigneter Moment, um eine Verfassungsreform „zwischen Tür und Angel“ durchzudrücken, ohne das Volk zu fragen.
Die etwas aus dem Ruder gelaufene Informationsveranstaltung, die die Kammer am 8. Oktober im Tramsschapp veranstaltet hatte, hat offensichtlich nicht dazu beigetragen, das Vertrauen in die Politik wieder zu stärken. Die Haltung der für die vier Kapitel zuständigen Abgeordneten beschreibt Chantal Reinert, die bei dieser Veranstaltung anwesend war, als arrogant. Die Argumentation, man traue dem Volk nicht zu, über die Texte abzustimmen, weil die Verfassung zu kompliziert sei, empfindet sie als eine Form der Entmündigung. „Wir sind nicht der Pöbel, dem von einer Handvoll Leute diktiert wird, was gut für uns ist. Wir wissen selbst, was gut für uns ist. Wenn sie die Texte anständig erklären, können wir eigenständig eine Entscheidung treffen.“ Und aufgeklärt werde eben nur, wenn es zu einem Referendum komme, hoffen die Aktivist/innen. Dann seien die Parteien quasi dazu verpflichtet, Infoabende zu veranstalten. „Dann sind sie unter Zugzwang“, sagt Nora Pleimling.
Skepsis Was Luc Deitz, Chantal Reinert und Nora Pleimling noch mit der ADR verbindet, ist die Interpretation der Vorgehensweise der vier großen Parteien bei der Verfassungsreform. CSV, DP, LSAP und Déi Gréng hätten ihr Wahlversprechen gebrochen, als sie 2019 beschlossen, die Revision in vier Kapitel aufzuteilen und kein großes Referendum durchzuführen. Damit hätten sie fast 80 Prozent der Wähler/innen belogen, die den vier großen Parteien 2018 ihre Stimme gegeben haben, kritisiert Deitz. Das sei „infam“. Dass vor allem die CSV daran Schuld war, weil sie 2019 damit drohte, ihre Sperrminorität geltend zu machen, um ihre Forderungen nach einer Aufweichung der Unabhängigkeit der Justiz und einer Stärkung der Monarchie durchzusetzen und dadurch ausgerechnet den Text boykottierte, den ihr früherer Abgeordneter Paul-Henri Meyers im Konsens mit den anderen Parteien erstellt hatte, wird im ADR-Narrativ freilich kaum erwähnt.
Ob die Bürgerinitiative Erfolg haben wird, ist derweil fraglich. Luc Deitz ist „sehr skeptisch“, dass 25 000 Wähler sich in ein Rathaus begeben werden, um den Antrag zu unterzeichnen. Deshalb hat er Anfang Oktober die Petition 2035 eingereicht, in der er vom Parlament fordert, eine Möglichkeit einzuführen, dass eine Referendumsprozedur auch über den Weg von Online-Unterschriften eingeleitet werden kann. Bislang haben nicht einmal 1 700 Bürger unterschrieben, noch bleiben 18 Tage Zeit. Auch Reinert und Pleimling glauben, dass es schwierig werden wird, doch sie wollen engagiert und mit Begeisterung aufklären und für das Referendum werben. Wie sie es bereits in den vergangenen Wochen getan haben, als sie die Menschen ansprachen, um Unterschriften für Konecznys Petition 2007 zu sammeln. Die Kund/innen ihres Familienbetriebs, die Teilnehmer/innen an ihren Thermomix-Abende und die Besucher/innen des Haupeschmaart in Munshausen hat Chantal Reinert bereits über die Verfassung informiert. Viele hätten nichts von der Reform gewusst. Das soll sich künftig ändern. „In den letzten 20 Monaten hatte immer irgendetwas seinen Höhepunkt. Erst waren es die Masken, dann war es die Impfung. Diese Themen sind inzwischen durch“, sagt Nora Pleimling. „Jetzt ist die Verfassung das Thema. Es ist riesengroß.“