Mein Enkelsohn, knappe fünf, deutet auf mein Kinn und sagt: Du hast da Haare. Ja, sage ich, betont selbstbewusst. Du bist aber kein Mann?, grübelt er. Nein, sage ich, Frauen haben auch Bärte. Omas haben auch Bärte. Er schaut mich skeptisch an. Dann bist du ein Opa, sagt er.
Nein, protestiere ich. Oder? Vielleicht hat er ja recht. Zumindest teilweise. Dass wir alle alles sind und jedes von uns zumindest zwei Geschlechter aufweisen kann, ist seit ewig bekannt. Um den Überblick zu behalten, hat sich das Patriarchat auf eins konzentriert, und so ist die Welt, oder das, was sich so nennt, bevölkert von Macho-Karikaturen und Weiblichkeitsdarstellerinnen in ihren jeweils genehmen, genehmigten Outfits.
Zeit, mich zu outen, läuft unter der Rubrik „Was geneigte Leserin, gebeugter Leser immer schon nie wissen wollte“. Dass ich haarwüchsig bin, urwüchsig, vermutlich ein Wolfsmensch, würde ich ihm ihr nicht hasenfüßig zu Leibe rücken. Zumindest seit ich mich angepasst habe. Seit meine Kinder, gerade fing ein neues Jahrtausend an, verkündet haben, sie wollten nicht mehr mit einer Affenmutter herumziehen.
Auf einem vergilbten Foto aus den Jahren um 1860 ertappe ich sie, die, die mir all das eingebrockt hat, die Urheberin von all dem, meine Ururgroßmutter! Im Kreis ihrer stattlichen Nachkommenschaft. Eine Frau mit Bart. Leider kein stolzer Kleeschen-Bart, nein, klägliche Ho-Tschi Minh-Fransen baumeln aufs Zugeknöpfte.
Einst war das kein Problem. Jedenfalls nicht meines. Was wuchs, das wuchs, was gedieh, gedieh, und die Blase, wie man damals noch nicht sagte, in der ich in mein Wesen trieb, war die wohl allerentspannteste. Anderssein war das Credo, beinahe schon das Must; in diesem Anderssein war gut sein, wir verstanden uns als Freaks, sowieso, als Störenfriedas des normalen Alptraums rundherum. In einer belgischen WG teilte ich mir in den Siebzigern lange ein Zimmer mit einer Transfrau. Pierre war jetzt Evelyne, operiert und in Hormonbehandlung, ein ehemaliger Buchhändler, die davon träumte, auf den Strich zu gehen. Exotin war sie für uns nicht, mehr als über biologische Details redeten wir über Literatur, auch wenn sie nicht schrieb, war sie eine Dichterin.
Menschen mit Be- und Verhinderung fanden in dieser Szene Asyl, Komische, Erleuchtete und Hochsensible, die es noch nicht gab. Hauptsache anders als die andern, jede Szene hat ihre Musts. Herkömmlich Schöne waren selbstverständlich auch willkommen, vermutlich am willkommensten, wenn sie nur recht authentisch waren, was für die Schönen und Jungen unfairerweise am einfachsten war. So sein, wie man war, hieß das, das war das Wichtigste. Unkorrigiert. Urwüchsig. Held/innen waren Ureinwohner/innen, unverdorbene Analphabet/innen, die ewige Tibeterin mit dem ewig zahnlos strahlenden Lächeln, das durch Faltengestrüpp bricht. Damals hielt ich Zahnprothesen für Heuchelei und Goya-Krüppel für ehrlich.
Schnurrbärte waren damals selbst in der großen Parallelwelt noch geduldet, wenn auch nicht unter den Belairer Madammen. Sie hießen Damenbärte, waren also registriert und integriert, vorwiegend zwar in der Rubrik Schwiegermutter-Witze. Nonnen trugen sie spazieren, meine Ballettlehrerin war mit einem ehr- beziehungsweise eher furchtgebietenden ausgestattet, und lange schwarze Haare, die unter Nylonstrümpfen klebten, wurden noch gesichtet. Onkel fühlten sich qualifiziert, über Marktwert und Status bewaldeter Unterschenkel zu dozieren, die Evaluation fiel vernichtend aus. Wenigstens hauchte hin und wieder ein betörter Herr einer „rassige Frau“ in die Ohrmuschel.
Seit der Jahrtausendwende habe ich nie mehr ein einziges freies Haar an Weiberwaden ertappt, es hat Freie-Welt-Verbot. Wie jedes Härchen, das unerlaubt weiblich deklariertes Terrain besetzt, ist es brutaler Verfolgung ausgesetzt. Rupfen, Zupfen, Jäten, Lasern, ganze Oberflächen werden gerodet, Killer/innen kassieren Unsummen. Bis sämtliche Zonen babypopoglatt sind.
Und alte graue Wildwuchsweiber schaffen es noch immer nicht auf das Cover von Vogue.