Will die Regierung eine altersgerechte Sexualerziehung in den Schulen, muss sie mehr Geld in die Hand nehmen

Angstfrei und sicher

d'Lëtzebuerger Land vom 01.12.2017

Die Vagina ist pink und samtig, der Uterus knallrot und groß. Der beigefarbene Plüschpenis lässt sich drücken und kneten. Sogar kleine weiße Spermien aus Stoff fehlen nicht. „Das finden die Schüler toll“, sagt Simon Görgen, der die Stoff-Genitalien zu Demonstrationszwecken aus einem rollbaren Koffer genommen hat. Der Sozialpädagoge und Psychologin Sandra Michely fahren durchs Land, um Jugendliche in Schulen und Jugendhäusern über Sexualität, Verhütung, Geburt und mehr aufzuklären. Vorrangig sind sie in achten Klassen unterwegs, denn dort steht Sexualerziehung, oder genauer: „Éducation sexuelle et affective“, auf dem Lehrplan. Den Rollkoffer haben sie dabei; neben Holzpenissen, über die kichernde Schüler Kondome streifen können, finden sich Bücher, Filmtipps und eine Aufklärungsbroschüre, die in drei Sprachen gedruckt ist.

„Wir versuchen, Sexualität und Körper positiv zu vermitteln. In der Pubertät sind viele Jugendliche verunsichert. Wir wollen ihnen ein gutes Gefühl geben.“ Görgen und Michely hören den Jugendlichen zu, sie erklären, wenn sie Fragen haben, räumen mit Mythen und falschen Vorstellungen auf. Was entspannt rüberkommt, hat Methode. Der Besuch wird mit dem Lehrer zunächst geplant, dessen Aufgabe es ist, im Vorfeld mit den Schülern über Pubertät und biologische Entwicklungsprozesse zu sprechen. „Wir kommen quasi als i-Tüpfelchen und sprechen konkret über Sexualität.“ Ihre Methoden erklären die beiden bereitwillig, sie sind intensiv sexualpädagogisch geschult. „Sexualität betrifft einen immer selbst. Wir versuchen aber, so neutral wie möglich zu sein und auf das einzugehen, was die Jugendlichen beschäftigt“, betont Michely.

Das ist wichtig, um gerade Eltern Ängste zu nehmen. Denn wenn Kontroversen um den Aufklärungsunterricht toben, dann bei den Erwachsenen. Konfrontationen wie in Deutschland oder Frankreich, wo militante Elternverbände Sturm laufen und Schulen bezichtigen, Werbung für Promiskuität oder Homosexualität zu machen, gibt es in Luxemburg nicht. Doch besorgte Anfragen hat Astrid Schorn gehabt; sie ist im Erziehungsministerium verantwortlich für Gesundheitsfragen: „Sie betreffen eher die Grundschule. Meist sind es Ängste, Kinder könnten zu früh mit Sexualität konfrontiert werden.“ Auf einem Informationsabend zum Sprachenkonzept im Frühjahr empörte sich eine Mutter über „Homosexualität im Lehrplan“. Erziehungsminister Claude Meisch (DP) wies sie freundlich aber bestimmt darauf hin, dass Schwule und Lesben hierzulande gesetzlich gleichgestellt sind und heiraten dürfen. Um solche Konfrontationen zu vermeiden, sind viele Lehrer dankbar, dass sie von den Profis des Planning familial unterstützt werden.

Manche Schulen, wie das Lycée Technique du Centre, haben deren Besuch fest eingeplant, bei anderen ist er Bestandteil von Projekttagen oder Gesundheitswochen. Görgen und Michely besuchen überwiegend technische Sekundarschulen: „Vielleicht wissen die Lehrer dort besser über die Bedürfnisse der Jugendlichen Bescheid“, versucht der Sozialpädagoge das Aufklärungsgefälle zu erklären. Roby Antony, Erzieher und Leiter des schwul-lesbischen Informationszentrums Cigale, der auf Anfrage ebenfalls in Schulen geht, um über Homosexualität, Coming-out, Diskriminierung aufzuklären, war, sagt er, „in all den Jahren nicht ein Mal im Athenäum gewesen“.

Dabei geht Sexualität alle etwas an. Studien zu Luxemburgs Jugend und Sexualität sind Mangelware. Die wenigen Daten stammen aus der Jugend-Wohlbefindlichkeitsstudie von 2013/2014 der Weltgesundheitsorganisation und deuten darauf hin, dass Luxemburgs Jungen und Mädchen sich in punkto Sex nicht viel anders verhalten als Jugendliche anderer EU-Länder. Bei 15-Jährigen, die angaben, bereits Geschlechtsverkehr gehabt zu haben, liegt Luxemburg im oberen Drittel. Drei Viertel der Jungen gaben an, beim letzten Geschlechtsverkehr mit Kondom, etwas mehr als die Hälfte der 15-jährigen Mädchen mit der Pille verhütet zu haben. Allerdings sagten Luxemburgs Teenager auffällig häufig, sich lieber nicht ihren Eltern, sondern Gleichaltrigen anzuvertrauen.

Also keine sexwütige Generation Porno, wie in Schlagzeilen und Artikeln zu Sexting und Sexvideoportalen häufig sensationslüstern behauptet wird? Das Phänomen ist wenig erforscht, zudem sind Befragungen zu Sexualität oft verzerrt, weil Befragte bei dem Tabuthema nicht unbedingt die Wahrheit sagen. Harte Daten, wie die Anzahl an Teenager-Schwangerschaften (Geburten: 2012 bis 2015 um die 25, 2016 elf), deuten jedoch daraufhin, dass viele Jugendliche offenbar nicht ausreichend aufgeklärt sind. Die Zahl der jährlichen HIV-Neuinfektionen (2016 über 90) ist zudem erschreckend hoch.

„Über Risiken sind viele Jugendliche informiert. Wenn es um Sex und Sexualität geht, ist das Bild ein anderes“, meint Simon Görgen. Er verweist auf den medialen Einfluss durch Internet und Smartphone, der sich kaum kontrollieren lasse. Viele Schüler informierten sich dort: „Der Druck, in der Sexualität Leistung zu bringen oder Sex unter Leistungsaspekten zu betrachten, ist da. Das hören wir aus den Erzählungen der Jungen und Mädchen deutlich heraus.“ Sind Penis oder Busen groß genug? Was tun, wenn man keine Lust auf Sex hat oder sich zum gleichen Geschlecht hingezogen fühlt? Das sind Sorgen, die Jugendliche umtreiben. In zwei Doppelstunden können sie sich austauschen, im geschützten Rahmen, ohne den Lehrer. „Es geht darum, dass sie frei ohne Angst vor Bewertung reden können. Das verstehen viele Lehrer nicht“, erklärt Sandra Michely.

Eigentlich sind Görgen, Michely und eine dritte Halbtagskraft auch in Grundschulen unterwegs gewesen. Doch Inspektoren (heute Regionaldirektionen) bestanden darauf, der Lehrer müsste ebenfalls anwesend sein. Sie begründeten dies damit, in heiklen Situationen eingreifen zu können. Die Sozialpädagogen betonen ihrerseits: „Wir arbeiten altersgerecht. Wir zeigen keine Sexfilme oder verstörende Bilder, sondern sprechen vor allem über das, was Kinder selbst mitbringen“, so Görgen. Das kann aber heißen, dass sie vielleicht etwas mitbekommen, worüber weder der Lehrer und nicht einmal die Eltern Bescheid wussten. Ein Fokus der Sexualerziehung bei den Kleinen ist neben der Aufklärung die Prävention von sexuellem Missbrauch.

Weil die Sozialpädagogen das Vertraulichkeitsprinzip nicht aufgeben wollen und auch das Ministerium auf seiner Position beharrt, liegt der Aufklärungsunterricht in der Grundschule momentan auf Eis, obwohl er im Regierungsprogramm steht – und Grundschulkinder sehr wohl mit Sex in weitesten Sinne konfrontiert sind. Nicht selten unfreiwillig. Laut einer Umfrage von Safer Internet in Österreich war jeder dritte 14- bis 18-Jährige von Sexting betroffen. Ob sie wollten oder nicht, bekamen sie Nacktbilder oder sogar Pornos über Netzwerke wie Whatsapp oder Snapchat zugeschickt. Glaubt man den Aussagen von Schulpsychologen, sind Luxemburgs Schulen davon nicht verschont. Das ist nicht nur aus entwicklungspsychologischer Sicht für die Kinder problematisch, sondern bei Fotos mit nackten Minderjährigen auch rechtlich, da strafbar.

„Wir haben in der Grundschule eine Versorgungslücke“, bestätigt Astrid Schorn. Man bemühe sich derzeit intensiv, diese zu schließen: Mit Hilfe des Lehrer-Weiterbildungsinstituts Ifen in Walferdingen und den Profis des Planning familial soll das Lehrpersonal verstärkt zu Multiplikatoren ausgebildet werden. Sexualpädagogik ist in der Lehrerausbildung nicht vorgesehen – weder bei den Grundschullehrern noch bei den Erziehern, das entsprechende Modul wurde von der Uni Luxemburg kommentarlos gestrichen: „Das ist problematisch“, sagt Gesundheitsexpertin Schorn. Immerhin: Nachdem in der Vergangenheit Weiterbildungskurse mangels Interesse abgesagt werden mussten, haben sich zuletzt mehr Lehrer eingeschrieben. Eine andere Initiative sieht vor, dass Hebammen mit Kindern über Geburt reden.

Die Regierung ist klar in der Verpflichtung: Luxemburg hat die Empfehlungen von Unesco und Weltgesundheitsorganisation zur Sexualerziehung unterschrieben, der zufolge alle Menschen das Recht haben, eine risikofreie, gesunde Sexualität zu entwickeln. Dazu zählt neben einer altersgerechten Sexualerziehung, die auf kulturelle Hintergründe abgestimmt und wissenschaftlich korrekt ist, die Akzeptanz von minoritären Lebensformen wie Homo-, Trans- oder Intersexuelle. Bei Letzteren unterscheidet sich die Identität vom biologischen oder hormonellen Geschlecht. Oftmals übt die Gesellschaft auf sie großen Druck aus, sich einem Geschlecht eindeutig zuzuordnen. In der Vergangenheit wurden Kinder mit nicht-eindeutigem Geschlecht zwangsoperiert. Mit traumatischen Konsequenzen für ihr Leben.

Das alles könnte im Biologieunterricht, im Sprachen-, Mathe- oder Kunstunterricht, etwa durch das Lesen einer Coming-Out-Geschichte, das Berechnen eines Menstruationskalenders oder die Auseinandersetzung mit dem Werk einer homosexuellen Künstlerin, zur Sprache kommen. Doch obwohl mehr als 40 Jahre erbittert, ideologisch verbrämt und nicht selten ohne wissenschaftliche Erkenntnisse zu berücksichtigen, über Umfang und Inhalt der Sexualerziehung gestritten wurde, fehlt es bis heute an einer systematischen fächerübergreifenden Sexualerziehung in den Schulen.

An Akteuren mangelt es nicht: vom Planning familial, über Hebammen, der Schulpsychologen, Lehrer, die Vertretungen der Schwulen und Lesben, der Inter- und Transsexuellen, Rotes Kreuz, Caritas, Pro Familia, Aidsberodung... Mit der Abtreibungsreform 2012 sollten die Lager, Traditionalisten und Abtreibungsgegner auf der einen Seite und Befürworter der weiblichen Selbstbestimmung auf der anderen, eigentlich einen Kompromiss gefunden haben: Im Gegenzug zu gelockerten Abtreibungsbestimmungen sollten Beratung und Sexualerziehung verstärkt werden. Eine mit viel Pomp verabschiedete Absichtserklärung der (schwarz-roten) Ministerien Erziehung, Familie, Gesundheit und Gleichstellung vom Juli 2013 sah ein Referenzzentrum zur Förderung der sexuellen und affektiven Gesundheit vor – sowie den deutlichen Ausbau der Sexualerziehung. Das Zentrum sollte der Startschuss sein für eine disziplin- und bereichsübergreifende Zusammenarbeit und einen aktualisierten Aktionsplan. Vier Jahre später wurde eine Koordinatorin eingestellt. „Unser Konzept wird sich an alle richten“, sagt Isabel Scott, die derzeit bemüht ist, ein Inventar der unterschiedlichen Ansätzen und Initiativen anzufertigen. Obwohl das Zentrum von vier Ministerien getragen wird, sind im Budget 2017 jedoch lediglich 140 000 Euro (vom Gesundheitsministerium) und im Haushaltsentwurf für 2018 145 000 Euro vorgesehen. Viel zu wenig, um nach Abzug der Personalkosten neue Kampagnen oder Aktivitäten zu entwickeln. Zum Vergleich: Für das Zentrum für politische Bildung sind 400 000 Euro veranschlagt. Im Planning familial selbst sind es laut Konvention zweieinhalb Stellen: für 36 Lyzeen, über 150 Grundschulen, Jugendhäuser und, nicht zu vergessen, die Multiplikatoren-Ausbildung.

Die chronische Unterfinanzierung der Sexualpädagogik steht im krassen Widerspruch zu den langen politischen Kämpfen und unzähligen Sonntagsreden: Für die CSV und die katholische Kirche war (und ist)die Sexualerziehung ein wichtiges Instrument, um Frauen zu bevormunden und ihre katholisch-gutbürgerliche Vorstellung von Familie und Reproduktion durchzusetzen. Im Mittelpunkt steht die Unterdrückung von Lust; Abstinenz vor der Ehe war das bevorzugte Verhütungsmittel. Sexualerziehung war allenfalls als Gefahrenabwehrpädagogik geduldet. Fürsprecher dieses Modells sahen und sehen Aufklärung eher als Aufgabe der Familie denn der Schule, dabei betonen Görgen und Michely beide: „Eltern bleiben in der Verantwortung.“ Ausgeblendet wird oft, dass Gewalt und Missbrauch sehr viel häufiger im familialen Nahbereich durch Verwandte oder Bekannte ausgeübt werden als durch Unbekannte.

Demgegenüber steht der präventive aufklärerische Ansatz, der neben klassischen Aspekten wie der Verhütung rollenstereotypes Verhalten hinterfragt sowie Gefühle und das Recht am eigenen Körper als Prävention gegen Gewalt und Sexismus betont und der gesellschaftliche Entwicklungen wie Internet-Pornografie oder Hypersexualisierung kritisch aufgreift. Um das wirksam tun zu können, braucht es jedoch mehr finanzielle Mittel. Oder, wie die Angelsachsen sagen: Put your money where your mouth is!

Ines Kurschat
© 2024 d’Lëtzebuerger Land