Im Zeitalter von Open Data könnte für die Weitergabe von Sozialdaten das letzte Wort künftig beim Sozialminister liegen. Sozialforscher sind beunruhigt

Da könnte ja jeder kommen!

d'Lëtzebuerger Land vom 24.11.2017

Am Montag gab es mal wieder eine gute Nachricht. Luxemburg gehöre zu den „Trendsettern“ in der EU, was Open Data angeht, teilte der Presse- und Informationsdienst der Regierung mit. Das hätten die Verantwortlichen des European Data Portal ermittelt. Mit der Umsetzung seiner Open Data Strategy komme Luxemburg auf Platz sechs im Ranking der 28 EU-Staaten.

Im Trendsetter-Land selber sind sich allerdings nicht alle der Daten-Offenheit so sicher. Zum Beispiel, wenn es um den Gesetzentwurf von LSAP-Sozialminister Romain Schneider mit der laufenden Nummer 7004 geht. Er ist ein kleines „Omnibus-Gesetz“, will hier und da Regeln für die Sozialversicherung ändern. Eine dieser Kleinigkeiten ist groß genug, dass sie Proteste der Handelskammer wie auch der Salariatskammer ausgelöst hat, dem Staatsrat zu denken gab und im parlamentarischen Ausschuss für Arbeit und Sozialversicherung nicht nur den Oppositionsvertretern, sondern auch Abgeordneten der Regierungsmehrheit. Josée Lorsché von den Grünen verweist darauf, „dass ich die erste war, die darauf aufmerksam gemacht hat“. Sozialforscher von der Uni Luxemburg sind beunruhigt wegen der geplanten Änderung. Sie betrifft Daten.

Davon liegen bei der dem Sozialminister unterstehenden Generalinspektion der Sozialversicherung, der IGSS, eine ganze Menge. Selber erhebt die Behörde keine Daten, empfängt aber die der Sozialkassen und bereitet sie auf. Manche macht sie in ihren Jahresberichten publik, noch ein paar mehr auf der Webseite isog.public.lu ihres Informatiounssystem fir sozial Ofsécherung a Gesondheet. Dort kann man sich zum Beispiel ein Bild davon machen, wie häufig Fünf-Sechstel-Pensionen in welcher Größenordnung im Übergangsregime für den öffentlichen Dienst verteilt sind.

Die IGSS sammelt aber auch noch andere Daten und bereitet sie auf. Zum Beispiel gewinnt sie Einkommensdaten aus verschiedenen Quellen und setzt sie sinnvoll zusammen. Streng genommen muss das nichts mit Sozialversicherung zu tun haben. Doch als die IGSS 1974 gegründet wurde, hatte drei Jahre zuvor die damalige Regierung eine Rentenstudie des Genfer Bureau international du travail entgegengenommen und fand anschließend, es mangele der Sozialpolitik akut an Statistiken. So kam es, dass die IGSS zuständig wurde für eine „Programmation sociale“, die mehr umfasst als nur die Sozialversicherung. Sie lieferte die Grundlage für die Einführung des RMG 1986 oder für das Stipendiensystem (die Bourses d’études). Auch im Motivenbericht zu Gesetzentwurf 7004 steht, in den letzten Jahren habe die IGSS „des activités dans le domaine des projections et de la micro- et macro-simulation appliquées aux politiques sociales“ entwickelt. Für eine „evidenzbasierte Sozialpolitik“ sei das unverzichtbar.

Das Problem dabei? – Was genau die Missionen der IGSS sind, steht im Code de la sécurité socia-
le. Mit Gesetzentwurf 7004 soll jene gestrichen werden, die heißt, „de recueillir les données statistiques nécessaires tant sur le plan national que sur le plan international“. Weil das impliziere, die gesammelten Daten auch weiterzugeben oder zu veröffentlichen, müsse diese Mission unbedingt im Code stehen bleiben, meinen Handelskammer und Salariatskammer in ihren Stellungnahmen zum Gesetzentwurf ziemlich gleichlautend. Die Handelskammer findet, damit keine Missverständnisse aufkommen, sollten „publication“ und „mise à disposition“ noch hinzugefügt werden. Die Salariatskammer schlägt vor, ein „Recht“ auf den Bezug dieser Daten einzuführen, ihm aber durch eine Verordnung einen Rahmen zu geben: des Datenschutzes wegen. Würde diese Mission dagegen gestrichen, könnten nicht nur die Berufskammern unter „Informationszurückhaltung“ leiden müssen und es der Salariatskammer in Zukunft womöglich schwerfallen, ihr jährliches Panorama social zu veröffentlichen. Am Ende könnte sogar der Wirtschafts- und Sozialrat ziemlich handlungsunfähig werden.

Nicht gerade nach Open Data sah noch ein weiterer Passus in Gesetzentwurf 7004 aus. Jedenfalls in der ersten Fassung des Entwurfs. Er sah vor, dass sogar Anfragen, die die Regierung insgesamt an die IGSS stellt, vom Sozialminister genehmigt werden müssten. Nachdem der Staatsrat erklärt hatte, dass ein Minister der ganzen Regierung Vorschriften machen könnte, wäre verfassungswidrig, wurde dieser Paragraf in einer Sitzung des parlamentarischen Ausschusses am Mittwoch vergangener Woche aus dem Gesetzentwurf entfernt. Bei den Missions-Änderungen aber ist es geblieben. Der Lénk-Abgeordnete Marc Baum hatte versucht, die Idee der Salariatskammer auf das „Recht“ auf Daten einzubringen, wurde dabei von der CSV unterstützt, scheiterte aber an der Koalitionsdisziplin der Mehrheit. Obwohl selbst von ihr nicht alle Abgeordneten sich sicher waren, dass die Idee der Salariatskammer schlecht sei. Letzten Endes sei die ganze Sache sehr komplex und technisch, ist von Abgeordneten der Mehrheit zu hören. Außerdem müsse man an den Datenschutz denken. Die Grüne Josée Lorsché bringt das Dilemma auf den Punkt: „Wir sind hundertprozentig der Meinung, dass personenbezogene Daten geschützt werden müssen, genauso hundertprozentig finden wir, dass es keine unbegründete Einschränkung zum Beispiel für Forschungszwecke geben darf.“

Gibt es die? Nein, sagt Thomas Dominique, der IGSS-Direktor. „Das wird falsch verstanden.“ Denn die IGSS erhalte eine neue Mission: „de réaliser des analyses et des études à des fins d’évaluation et de planification des régimes de protection sociale et de rceuillir à ces fins des données auxquelles l’Inspection générale a accès en vertu des dispositions légales et réglementaires en vigueur, de les centraliser, de les traiter et de les gérer sous forme pseudonymisées“. Bisher sei es der Behörde, so ihr Direktor, nur erlaubt gewesen, Daten zu sammeln, aber eigentlich nicht, sie zusammenzusetzen. Was sie aber dennoch tat. „Nun erhalten wir die gesetzliche Basis dafür.“

Alles klar? Nicht unbedingt. Dass die IGSS für eigene Studien Daten sammeln und verarbeiten kann, heißt nicht, dass sie sie weitergibt. Eben deshalb schlug die Salariatskammer vor, ein definiertes Recht dafür zu schaffen. Der IGSS-Direktor hält dagegen, unter welchen Bedingungen Behörden etwas weitergeben dürfen, regele künftig das Datenschutzgesetz. „Das schreiben wir nicht nochmal ins Sozialversicherungsbuch.“ Damit wird die Sache noch ein Stück komplexer. Denn zur Abänderung des Datenschutzgesetzes, das ab Ende Mai 2018 die neue EU-Datenschutzverordnung übernehmen muss, liegt im Parlament Gesetzentwurf Nummer 7184. Und noch ein dritter ist von Bedeutung. Er hat die laufende Nummer 7086 und ist ein „Omnibus-Gesetz“ für das Arbeitsrecht. Unter anderem soll er die Basis für ein „Réseau d’études sur le marché du travail et de l’emploi“ (Retel) schaffen. In diesem Retel, sagt der IGSS-Direktor, würden nicht nur Arbeitsmarktinformationen zugänglich, soweit der Datenschutz das erlaubt. Sie würden obendrein mit Sozialdaten und mit Daten über Schule, Aus- und Weiterbildung verknüpft. Zugänglich würden allerdings nicht die Daten selbst, präzisiert er. Stattdessen werde Retel „Routinen“ enthalten, durch die sich „Resultate“ ermitteln lassen. Die könnten dann verwendet werden. Sei es von Berufskammern, sei es von Wissenschaftlern. „In Wirklichkeit“, sagt Thomas Dominique, „wird unsere Mission dadurch nicht enger, sondern größer.“

Caritas-Direktor Roland Urbé findet, das könnte so sein. Für ihren Sozialalmanach greift die Caritas seit Jahren auf IGSS-Informationen zurück, „und wir sind mit ihr immer gut gefahren“. Dass sich das ändern könnte, kann Roland Urbé sich schwer vorstellen. Er räumt aber ein, die Zusammenhänge von neuen Missionen der Behörde, dem neuen Datenschutzgesetz und dem geplanten Retel-Portal nicht bis in alle Einzelheiten überblicken zu können. Sicher sei aber: „Datenschutz ist wichtig.“ Deswegen Grenzen zu setzen, verstehe sich.

Weniger Verständnis finden die neuen Regelungen bei Sozialwissenschaftlern. Darauf deutet hin, dass die Generaldirektorin des Belvaler Luxembourg Institute of Socio-Economic Research (Liser) sie nicht kommentieren möchte. Und am Institut für sozio-ökonomische Ungleichheitsforschung (Irsei) der Universität Luxemburg ist man „besorgt“, erklärt Anne Hartung, wissenschaftliche Mitarbeiterin. Die möglichen Auswirkungen des Gesetzentwurfs auf die Forschung seien unklar. Werde nicht als Mission festgeschrieben, dass die IGSS Daten weitergeben kann, fehle ihr die legale Basis, sie für Forschungszwecke weiterzugeben. „Unsere Forschung zu Ungleichheiten in Luxemburg und anderen sozialen Fragen sind abhängig von diesen Daten. Für uns gibt es keine Alternativen.“ Daran ändere auch das Retel-Portal nichts: „Das ist auf jeden Fall ein großer Schritt in die richtige Richtung, aber dennoch ein relativ kleines Paket.“ Je nachdem, was zu erforschen ist, könnten die Daten, die das Portal Forschern liefern soll, wie der IGSS-Direktor das beschreibt, nicht reichen. Dann müssten neben Retel noch andere Kanäle bestehen. „Besser als die Mission zu stutzen“, sagt Anne Hartung, „wäre es, objektive Kriterien für den Datenbezug festzuschreiben.“

Das Vertrackte ist: Kriterien für den Datenbezug enthält der Gesetzentwurf zur Änderung des Datenschutzgesetzes sehr wohl. Sogar eine lange Liste davon. Und im Omnibus-Gesetzentwurf zum Thema Arbeit wird aufgezählt, welche Daten ins Retel-Portal eingehen können. Aber dass ganz konkret die IGSS als einer der größten Datenproduzenten des Landes sie auch weitergeben soll, unter welchen Bedingungen auch immer, wird nirgendwo stehen. Zur Begründung erklärte der Sozialminister in der Sitzung des Parlamentsausschusses am 5. Oktober, er ziehe es vor, „d’éviter que tout un chacun puisse pouvoir solliciter les services de l’IGSS en matière d’analyses et d’études“. Das ist im öffentlich zugänglichen Sitzungsprotokoll nachzulesen. Auf die ihm vor zwei Wochen gestellte Frage des Land, wie diese Aussage zu verstehen sei und was politisch gegen ein definiertes „Recht“ auf Datenzugang spräche, hatte Romain Schneider bis zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe noch immer nicht geantwortet.

So dass der Eindruck bleibt, dass beim Open-Data-Trendsetter Luxemburg die Offenheit ihre Grenzen haben soll und pouvoir discrétionnaire angesagt sein wird. Ob der Datenschutz das womöglich verlangt, ist schwer zu sagen: Ein Gutachten der Nationalen Datenschutzkommission CNPD hat Romain Schneider für seinen Gesetzentwurf nicht eingeholt, obwohl das Datenschutzgesetz dies für jeden legislativen Akt vorschreibt, in dem es um ein „traitement des données“ geht. „Wir wurden nicht konsultiert“, sagt CNPD-Vizepräsident Thierry Lallemang. Allerdings sei das Datenschutzgesetz so geschrieben, dass ein Gesetz oder eine Verordnung auch ohne CNPD-Gutachten in Kraft treten kann.

Gut passt all das nicht ins digitale Zeitalter. Am Ende könnte der dem Minister und dem IGSS-Direktor verbleibende Ermessenspielraum vielleicht sogar verhindern, dass eine wichtige Sozialstudie für den „Rifkin-Prozess“ angefertigt werden kann. Bitter wäre auch, wenn dem Institut für Ungleichheitsforschung der Universität die Arbeit erschwert würde: Dann könnte die Uni nicht jenen „impact socio-économique“ liefern, den die Regierung von ihr verlangt, und es würde ein Forschungsbereich, den der nationale Forschungsfonds FNR mit einem Pearl-Grant von mehreren Millionen Euro öffentlicher Mittel versehen und zwei hochkarätige Professoren aus den USA und Frankreich an die Uni zu verpflichten geholfen hat, zumindest nicht gestärkt. Zu guter Letzt könnte der Sozialminister sich und seiner Partei einen schlechten Dienst erweisen: Landet die LSAP nach den nächsten Wahlen in der Opposition, was immerhin möglich ist, müsste sie ein strategisches Interesse daran haben, dass die Gesellschaft intensiv über soziale Fragen diskutiert und die Sozia-
listen sich dabei profilieren können. Ohne dass ein Sozialminister aus einer anderen politischen Familie sich dem womöglich in den Weg stellt.

Peter Feist
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