Wo denn die Rentenmauer geblieben sei, wurde LSAP-Sozialminister Romain Schneider vergangenen Freitag gefragt. Der joviale Wiltzer entgegnete lächelnd: „Die ist noch nicht in Sicht.“ Zuvor hatte er den neuesten Bilan technique du régime général d’assurance pension vorgestellt. Aus ihm zog er den Schluss: „Bis 2040 sind die Renten abgesichert.“ Unerwähnt blieben in der Pressekonferenz aber die Szenarien, unter denen die Generalinspektion der Sozialversicherung (IGSS) sich die Absicherung der Renten vorstellen kann. Manche sind so radikal, dass sie auf eine Kürzung der heutigen Renten um 40 Prozent hinauslaufen. Liegt die Rentenmauer am Ende näher als Schneider eingestehen will?
Ja und nein. Ja, weil die Renten nicht bis 2040 abgesichert sind, sondern nur bis 2034: Im Jahr danach könnte laut IGSS die Rentenreserve, die Ende vergangenen Jahres 16,54 Milliarden Euro oder 4,37 Jahres-Rentenausgaben schwer war, das gesetzlich vorgeschriebene Minimum von anderthalb Jahresausgaben unterschreiten. Nein, weil laut Gesetz eine Beitragserhöhung fällig wird, wenn die Reserve so klein zu werden droht. Dass sie völlig aufgezehrt würde, wie es die IGSS für 2043 kommen sieht, ist ein rein theoretischer Fall. Nach einer Beitragserhöhung wären die Renten erneut abgesichert. Für wie lange, kann selbst der beste Sozialminister heute nicht wissen.
Das Problem ist nur, dass der Sozialminister so tun muss, als wüsste er es. Und mit ihm im Grunde jeder, der zur Rentenpolitik etwas beizutragen hat. Die Umstände sind komplizierter als 1997, als CSV-Premier Jean-Claude Juncker den Begriff „Rentenmauer“ prägte und in seiner Erklärung zur Lage der Nation am 7. Mai 1997 orakelte: „Die Mauer wartet auf uns am 1. Januar 2015. Die Mauer wartet auf uns in 20 Jahren.“ Damals ging es um rein Luxemburger Politik. Zwei Jahre zuvor hatte eine versicherungsmathematische Studie vorhergesagt, 1999 müssten womöglich die Rentenbeiträge erhöht werden und dennoch könnten die Rentenreserven 2013 zu schrumpfen beginnen. Junckers Botschaft lautete, die Renten seien zu hoch, Beitragserhöhungen schlecht für die Wirtschaft, da sie die Lohnnebenkosten steigern, aber auch schlecht für die Staatsfinanzen, denn vom Beitragssatz von 24 Prozent übernehmen der Versicherte und sein Arbeitgeber jeweils nur ein Drittel und das verbleibende schießt der Staat zu.
Heute sind die Renten keine rein Luxemburger Angelegenheit mehr. Seit die EU wegen der Euro-Krise gemeinsame Haushaltsregeln erlassen hat, wird jeder Staatshaushaltsentwurf auf Übereinstimmung mit einem „mittelfristigen Haushaltsziel“ überprüft, das die EU-Kommission genehmigt hat. In die Rechnung gehen auch öffentliche Ausgaben ein, die wegen der „Alterung der Bevölkerung“ erst Jahrzehnte später anfallen. Kosten, die nicht durch Reserven gedeckt sind, sind als „verdeckte Staatsschuld“ abzubauen.
Deshalb taucht im IGSS-Bericht der in letzter Zeit viel erwähnte Ageing Report 2015 auf, den die Ageing Working Group bei der EU-Kommission im Frühjahr 2015 angefertigt hat und der Luxemburg unter anderem für 2060 den 1,1-Millionen-Einwohnerstaat prophezeit. Der Ageing Report ist nicht nur eine Fußnote in der IGSS-Bilanz. Die Modelle, die ihm zugrunde liegen, sind die für die Luxemburger Rentenvorausschau benutzten. Wegen der gemeinsamen Haushaltsregeln ist das für alle EU-Staaten so.
Die Pensionsreform von 2012 geht nach der EU-Lesart nicht weit genug. Obwohl sie die Lohnersatzrate auf ein Durchschnittsgehalt nach 40 Beitragsjahren von vorher 75 Prozent in Schritten bis auf 65 Prozent im Jahr 2052 senkt und Bestimmungen enthält, die erst in Kraft gesetzt werden sollen, wenn das nötig wird: Werden die Ausgaben der Pensionskasse größer als die Einnahmen, würde die Jahresendzulage gestrichen und die Anpassung bestehender Renten an die Reallohnentwicklung mindestens halbiert.
Das sind die Umstände, unter denen der Sozialminister ab Anfang kommenden Jahres in einer „Arbeitsgruppe Renten“ die IGSS-Bilanz diskutieren und bis zum Sommer „Empfehlungen an die Regierung“ ausarbeiten lassen will. Einerseits soll in dem kleinen Kreis der Arbeitsgruppe dafür gesorgt werden, dass möglichst wenig politischer Druck aufkommt, wenn umgesetzt werden soll, was schon beschlossen ist: die Streichung der Jahresendzulage und die Halbierung des Réajustement der laufenden Renten. Nötig werden könnte das, weil die Pensionskasse mehr ausgibt als sie einnimmt, laut IGSS um 2023. Gewerkschaftlicher Widerstand ist sicher. Die Konfrontation mit den Unternehmern stünde ebenfalls bevor. Zumindest falls die nächste Regierung dem „Geist“ der Pensionsreform folgt und ab 2023 nicht nur Leistungen kürzt, sondern auch die Beiträge erhöht. Was, Compétitivité oblige, nicht als Vorschrift im Pensionsreformgesetz steht, sondern nur als eine Möglichkeit.
All das müsste eigentlich erst die nächste Regierung interessieren. Sie könnte außerdem den nächsten IGSS-Bericht in fünf Jahren abwarten, ehe sie Maßnahmen ergreift. Doch dafür müssten die Parteien sich bei den nächsten Wahlen zumindest halbwegs mandatieren lassen. Und weil die Rentenpolitik aufgehört hat, eine rein nationale Angelegenheit zu sein, muss die DP-LSAP-Grüne-Regierung zumindest noch in zwei Europäischen Semestern das Rentensystem gegen die EU-Vorgaben verteidigen.
Inwiefern die Renten-Arbeitsgruppe sich über Szenarien einig wird, die weiter reichen als die Reform von 2012, bleibt abzuwarten: Der Ageing Report 2015 und mit ihm die IGSS-Bilanz sieht zwar freundlicher aus als die Ageing Reports von 2009 und 2012, die der Pensionsreform zugrunde lagen: Damals hieß es, das Beschäftigungswachstum werde schon 2020 unter ein Prozent jährlich fallen. Um die im Jahr 2060 voraussichtlich 425 000 Pensionierten mit einer umlagefinanzierten öffentlichen Rente in dem Umfang zu versorgen, wie er in der Pensionsreform skizziert ist, wären dann nur 495 000 Aktive zur Verfügung. Rentenbeitragseinnahmen von 7,1 BIP-Prozent stünden dann Ausgaben von 12,4 BIP-Prozent gegenüber.
Doch auch unter den derzeitigen Annahmen aus dem Report 2015 und der IGSS-Bilanz bliebe 2060 ein Defizit zwischen den Einnahmen aus Rentenbeiträgen und den Rentenausgaben übrig. Mit 4,1 BIP-Prozent wäre es 1,3 Prozentpunkte kleiner als 2012 von der EU-Kommission und in der Pensionsreform geschätzt wurde, wäre aber immer noch ein Minus, das wegen der EU-Haushaltsregeln stört.
Ohne weitere Kommentare rechnet die IGSS vor, wie das Defizit sich verkleinern ließe. Würde 2023 die Anpassung der laufenden Renten an die Reallohnentwicklung nicht nur halbiert, sondern abgeschafft, betrüge das Defizit 2060 statt 4,1 nur 2,8 BIP-Prozent, was immer noch 2,8 Punkte zu viel wären. Um das Defizit auf null zu drücken, müsste man dafür sorgen, dass die Rentenreserve nicht nur bis 2034 mehr als anderthalb Jahresausgaben enthält, sondern wenigstens bis 2060, so die IGSS.
Die Wege dahin sind zum Teil radikal. In einem Szenario würde die Rentenanpassung ab 2023 zur Hälfte weitergezahlt, aber der Beitragssatz umgehend auf 30,5 Prozent erhöht und der proportionale Steigerungsfaktor in der Rentenformel auf 1,074 Prozent gesenkt. Würde die Anpassung der laufenden Renten dagegen abgeschafft, könnte der Beitragssatz nur auf 28 Prozent erhöht und der proportionale Steigerungsfaktor nur auf 1,276 Prozent gesenkt werden.
Konsensfähig sind diese beiden Szenarien sicherlich nicht: Der proportionale Steigerungsfaktor ist der wichtigste Parameter für die Rentenhöhe. Die Pensionsreform sorgt dafür, dass er von 1,85 Prozent im Jahr 2012 bis auf 1,6 Prozent im Jahr 2052 sinkt. Die sofortige Senkung auf 1,074 Prozent käme einer allgemeinen Rentenkürzung um 42 Prozent auf einen Schlag gleich. Ein Faktor von 1,276 Prozent entspräche einer 31-prozentigen Kürzung.
Null Prozent Defizit im Jahr 2060 ließen sich laut IGSS auch erreichen, wenn das legale Renteneintrittsalter auf 68 Jahre und die Schwelle zum Antritt einer vorgezogenen Altersrente auf 63 Jahre erhöht würde, und zwar sofort. Würde gleichzeitig der Beitragssatz von 24 Prozent auf 27,8 Prozent angehoben und würden die laufenden Renten nur zur Hälfte an die Reallohnentwicklung angepasst, müsse der Steigerungsfaktor nur auf 1,5 Prozent gesenkt werden. Das entspräche einer Rentenkürzung um 19 Prozent. Striche man in diesem Szenario die Rentenanpassung komplett, bliebe die erforderliche Beitragserhöhung minimal und der Beitragssatz läge bei 25,6 Prozent.
„Das Wichtigste ist, dass unser Beschäftigungswachstum hoch bleibt“, meinte Romain Schneider am Freitag. Da waren die alternativen Szenarien der IGSS noch nicht publik, aber Unrecht hat der Minister nicht: Selbst die radikalsten Annahmen seiner Verwaltung setzen den Staat der 1,1 Millionen Einwohner oder besser: der 805 000 Aktiven voraus.
Man versteht erneut, weshalb die Regierung die IGSS-Bilanz, die erst 2017 hätte vorliegen müssen, um ein Jahr vorzog: Würden die Diskussionen in der Renten-Arbeitsgruppe erst ab Anfang 2018 geführt und lägen ihre Empfehlungen erst im Sommer 2018 vor, geriete das gefährlich nah an den Wahlkampf und könnte politisiert werden. Ein Jahr eher darüber reden zu lassen, enthält dagegen die Chance, die Wachstumsdebatte um die Rentenfrage zu ergänzen.
Natürlich entsteht dadurch auch Druck auf die CSV, nicht erst im Wahlkampf offenzulegen, wie sie sich die von Spitzenkandidat Claude Wiseler auf dem Parteitag am 8. Oktober angekündigte „nachhaltige Absicherung der Pensionen“ in dem „derzeit günstigen ökonomischen Kontext“ vorstellt, wenn sie gleichzeitig meint, der 1,1-Millionen-Einwohnerstaat im Jahr 2060 werde Luxemburg überfordern.
Unklar ist aber auch, wie die Regierungskoalition sich den weiteren Weg vorstellt. In ihren Wahlprogrammen hatten DP, LSAP und Grüne 2013 gemeint, die Pensionsreform müsse weitergehen. Auch CSV und ADR sahen das so. Im Regierungsprogramm ist das nicht so forsch formuliert, und einmal Minister geworden, fand sogar der frühere Handelskammerdirektor Pierre Gramegna vor zwei Jahren, die Pensionsreform solle „erst einmal ihre Früchte tragen“, ehe die Regierung neue Maßnahmen ergreife. LSAP-Vizepremier Etienne Schneider gab vergangenes Jahr zu Protokoll, zur Absicherung des Rentensystems sorge die Regierung vor allem für Wachstum.
Aber für welches? Zur öffentlich finanzierten Energiewende, die Jeremy Rifkin vor drei Wochen propagiert hat, passen die Beschäftigungsperspektiven aus den Renten-Simulationen ja vielleicht: Der US-Futurologe hält in seinem Bericht über die „dritte Industrielle Revolution“ bis zu 24 000 neue Arbeitsplätze jährlich für möglich, was ungefähr einer Verdoppelung der gegenwärtigen Zuwächse entspräche. Ob die „Sharing Economy“ aus Scheinselbstständigen und die automatisierte „Industrie 4.0“ zu den stark an der klassischen Arbeitsgesellschaft orientierten Szenarien passen, ist dagegen viel weniger gewiss.
Ein Szenario wird in der IGSS-Bilanz nicht weiter ausgearbeitet: Nur kurz wird erwähnt, ohne weitere Maßnahmen müsse 2060 der für ein Gleichgewicht von Einnahmen und Ausgaben nötige Beitragssatz bei 37 Prozent liegen. Inwiefern eine frühere und kleinere Beitragserhöhung das System ohne gleichzeitige Leistungskürzungen absichern könnte, bleibt unbekannt. Mehr als jene 30 Prozent Beitragssatz, auf die Unternehmer und Gewerkschaften sich vor 35 Jahren im Wirtschafts- und Sozialrat als Notfall-Szenario geeinigt hatten, sind offenbar ein No-Go.