Für Obdachlose ist der Coronavirus eine besonders große Gefahr

Ausgeliefert

d'Lëtzebuerger Land du 03.04.2020

„Ich squatte lieber in leeren Häusern. Da weiß ich wenigstens, mit wem ich in einem Raum bin“, sagt die Frau im Park mit Mops an der Leine, die an diesem Dienstagnachmittag das Courage am Dernier Sol in Luxemburg-Bonneweg betreten hat.„Hundefutter und Kaffee“ fragt sie sowie zwei in Papierbeutel verpackter Essensrationen. Eine Mitarbeiterin reicht ihr das Gewünschte, wenige Minuten später ist die Frau wieder auf der Straße, wo sie sich zu Kumpels gesellt, die in der Sonne eine Szene beobachten: Einem Mann geht es offensichtlich nicht gut, Sanitäter und Polizisten mit Masken umringen ihn und reden gemeinsam auf ihn ein. Doch der möchte keine Hilfe.

Menschen ohne Dach über dem Kopf trifft die Corona-Pandemie extrem hart: Viele sind krank oder süchtig, sind gezeichnet vom Leben auf der Straße und zählen zur Risikogruppe. Ein Zuhause, wo sie sich isolieren könnten, haben sie nicht. Hilfsangebote, wie Parachûte am Hauptbahnhof zum Aufwärmen und Teetrinken, sind zu oder haben deutlich reduzierte Öffnungszeiten.

Schlimm ist der Suchtdruck: Wer durchs Bahnhofviertel geht, sieht weniger Drogendealer an den Straßenecken stehen. Der Nachschub scheint zusammengebrochen. Wegen der Verknappung ist zu befürchten, dass die Straßendrogen mehr als ohnehin gestreckt werden, mit dem Risiko, das das für die Süchtigen bringt, die auf den Stoff angewiesen sind. „In der Krise spitzen sich alle Probleme zu, mit denen diese Population sowieso konfrontiert ist: Wohnungslosigkeit, Armut, Arbeitslosigkeit, Gesundheitsgefahren“, sagt Raoul Schaaf, Leiter des Comité national de défense social, zu deren Hilfsangeboten das Abrigado zählt. Ein niedrigschwelliges Substitutionsprogramm wurde kurzfristig von Stadt und Gesundheitsministerium gebilligt. „Die Krise hat den Dienstweg verkürzt“, freut sich Schaaf. Ab diesem Freitag soll ein Doktorenteam an Heroin-Süchtige Methadon und andere Medikamente austeilen.

Nicht nur Drogen, sondern vor allem Geld zum Überleben zu beschaffen, ist wegen der Ausgangssperre für Menschen ohne Arbeit und Einkommen fast unmöglich: Mit der Zahl der Passanten sinkt die Möglichkeit, sich mit Betteln oder Prostitution über den Tag zu retten, Polizisten patrouillieren, Menschen sind daheim, Sicherheitsleute zählen jeden Kunden, der ein Lebensmittelgeschäft betritt.

Der Drogenkonsumraum Abrigado in der Route de Thionville hat nach wie vor geöffnet. „Unsere Mitarbeiter sind fantastisch“, freut sich Raoul Schaaf. Alle seien sich einig gewesen, die Struktur trotz erschwerter Bedingungen täglich geöffnet zu halten. Um das Risiko einer Ansteckung mit dem Coronavirus so gering wie möglich zu halten, tragen sie Masken und Handschuhe. Zusätzlich wurde die Zahl der Besucher, die gleichzeitig den Konsumraum benutzen darf, von sonst 16 auf sechs gesenkt.

Der Sicherheitsabstand vor dem Fenster beim Spritzentausch wird eingehalten, wer sich beaufsichtigt einen Schuss setzen will, muss ein Ticket ziehen und draußen mit zwei Metern Abstand zueinander warten, bis er oder sie hineingerufen wird. Auch im Courage haben sich die Leute schnell an die neuen Regeln gewöhnt. Eine provisorisch errichtete Barriere hält Besucher auf Distanz. „Für unsere Arbeit, die größtenteils aus Zuhören besteht, ist das nicht schön“, erzählt eine Mitarbeiterin. Der zwischenmenschliche Kontakt ist reduziert: „Sie kommen kurz rein, dann verschwinden sie wieder.“

Einen Teil zieht abends ins Nachtasyl der Wanteraktioun, die um einen Monat verlängert wurde und ab dieser Woche komplett mit Tag- und Nachtangebot in die neuen Räumlichkeiten auf den Findel zieht. Um während der Wanteraktioun weiter Essen austeilen und Aktivitäten anbieten zu können, wurden Mitarbeiter aus anderen Diensten, die vorübergehend eingestellt sind, umverteilt. Auch der Nightshelter von Dommeldingen ist seit dieser Woche dort. „So können wir Ressourcen bündeln“, erklärt Dominique Faber, Regierungsberaterin im Familienministerium den Hintergedanken. Fragt man die Gruppe beim Dernier Sol, hört man dort ein misstrauisches „Die wollen uns weghaben!“ Befeuert wird das Gerücht durch eine offenbar missglückte Kommunikation zwischen Stadtverwaltung, Polizei und Streetworkern. „Es gibt keine solche Anweisung.“ Die Sprecherin von Polizeiminister François Bausch (Grüne) ist formell. Die Polizei schaut wohl nach dem Rechten, aber Leute umsiedeln, „das machen wir nicht“, beteuert auch Polizeisprecher Frank Stoltz. Seit dieser Woche ist der Shuttle-Dienst eingestellt, der Menschen zur Struktur auf dem Findel gefahren hat; die müssen nun in der Dunkelheit an einer viel befahrenen Hauptstraße den Weg zum Nachtasyl antreten.

Kritik kommt nicht nur von Besuchern, sondern auch von MitarbeiterInnen, die über verspätete oder spärliche Informationen klagen. Am Dienstag wurde eine Anleitung verteilt, wann und wie Mitarbeiter abgezählte Masken einsetzen sollen: Zeigt ein Besucher Covid-19-ähnliche Symptome bekommt er eine Maske; die Mitarbeiter müssen ihrerseits eine anlegen. Danach ist die Person so lange zu isolieren, bis die Ambulanz eintrifft und sie zur Teststation bei der Luxexpo überführt. Nicht jeder hat so viel Geduld: Am Wochenende lief jemand mit Husten davon, ehe die Sanitäter ankamen. „Wir können sie schlecht zwingen, wenn sie nicht wollen“, so ein Mitarbeiter.

Bislang sind offiziell bei den Obdachlosen keine Covid-19-Fälle bekannt. Betten wurden sicherheitshalber auseinandergerückt, um das Ansteckungsrisiko zu verringern: „Glücklicherweise haben wir in der neuen Struktur mehr Platz“, sagt Dominique Faber vom Familienministerium. Raoul Schaaf vom CNDS ist realistisch: „Es ist nur eine Frage der Zeit, dass sich jemand von uns oder unseren Klienten ansteckt.“ Médecins du monde, die Menschen in Not gesundheitlich versorgen, zählten bislang „sechs oder sieben“ Patienten mit „Covid-19-ähnlichen Symptomen. Sie wurden weitergeschickt, um sich testen zu lassen. Bisher seien die Tests allesamt negativ gewesen. Ganz sicher ist sich MdM-Vize Bernard Thill aber nicht: „Es gibt keinen systematischen Rücklauf der Informationen“, bedauert er.

Noch etwas fällt ihm und seinem Team auf: „Wir haben spürbar weniger Patienten, obwohl viele von ihnen chronisch krank sind“. An normalen Tagen kommen etwa 15 in den Sprechstunden, derzeit sei es die Hälfte: „Vielleicht trauen sie sich nicht, weil sie Angst haben, sich im Wartezimmer anzustecken.“ Dabei haben auch die Ärzte ihren Dienst reorganisiert und bieten jetzt Telefonberatung und Ticketsystem an. Damit die Bedürftigen trotzdem medizinisch grundversorgt werden, soll es ab demnächst eine permanente Sprechstunde in den Räumen der Wanteraktioun geben: „Wir suchen nach einer Lösung“, verspricht Stephanie Goerens, Sprecherin des Familienministeriums.

Ob das Angebot dann auch die vulnerabelste Gruppe unter den Obdachlosen erreicht? Menschen ohne Papiere, die auf der Straße leben, meiden schon in normalen Zeiten verschiedene Hilfsdienste, aus Angst, von den Behörden aufgegriffen und abgeschoben zu werden. Dass diese sich jetzt freiwillig melden, wenn sie Husten oder Fieber haben, ist unwahrscheinlich: An der Luxexpo in Luxemburg-Kirchberg herrscht reger Betrieb, sich unauffällig testen zu lassen, geht nicht.

Ines Kurschat
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