Diktafon I

„Flüchtigkeit, in Stein gemeißelt“

d'Lëtzebuerger Land vom 07.07.2023

Max Dax (*1969, Kiel), bürgerlich Maximilian Bauer, ist Journalist, Schriftsteller und Kurator. Bekannt für seine Gespräche mit Pop-Ikonen, hat er seinen Recherchen im Spannungsfeld zwischen Kunst, Musik und Popkultur mit einer viel beachteten Ausstellung – Hyper! A Journey Into Art And Music, 2019 in den Deichtorhallen in Hamburg – Form gegeben, wovon I'm Not There – The Invisible Influx of Music on Art Anfang 2023 in der Galerie Zidoun-Bossuyt in Luxemburg-Stadtgrund eine Neuinterpretation war. Der ehemalige Chefredakteur der deutschen Kultmusikzeitschrift Spex (2007-2010) schreibt heute freiberuflich u.a. für Spiegel, Die Welt oder die Frankfurter Rundschau. Er hat über zwanzig Bücher geschrieben, zuletzt „Was ich sah, war die freie Welt“ – 24 Gespräche über die Vorstellungskraft und den Roman Dissonanz – Ein austauschbares Jahr. Wir trafen Max Dax in Esch-Alzette, wo er am 14. Juni einen Talk mit Künstler Wolfgang Müller gab, der im Bridderhaus eine Künstlerresidenz hat. Dieses Gespräch ist das erste der neuen Land-Serie „Diktafon“, Gespräche mit Intellektuellen, die versuchen „Erinnerungen einzufrieren“

d’Land: Es ist schon eine besondere Herausforderung, ein Gespräch zu führen mit einem Experten des Gesprächs… Du hast in den letzten zwei Jahren zwei neue Bücher veröffentlicht, eines mit 24 deiner Gespräche und einen Roman. Bücher machen ist cool, weil man teilt. Mich hat Dissonanz schon sehr fasziniert, weil du auch deinen banalen Alltag schilderst, Zugreisen und Kochen, und daneben Begegnungen und Erinnerungen mit großen Künstler/innen und Intellektuellen. Dissonanz schildert genau ein Jahr, vom 16. Juni 2009 bis zum 16. Juni 2010 – als du Chefredakteur der Spex warst – und erschien zuerst als Blog auf spex.de. Warum musste das zwölf Jahre später ein Buch werden?

Max Dax: In Dissonanz geht es um eine Odyssee, also eine Irrfahrt, und zwar die des Erzählers. Er fragt sich: Wer bin ich? Und was ist meine Geschichte? Als ich im Juni 2009 damit begann, täglich zu schreiben, half mir der im Entstehen begriffene Text im wahrsten Sinne des Wortes zu überleben. Dissonanz half mir, den Moment eines Tages festzuhalten, der herausragte. Und wenn ich diesen Moment nicht aufgeschrieben hätte, dann wären die Erinnerungen irgendwann in einem Mahlstrom einfach verschwunden. Dadurch, dass ich täglich am Dissonanz-Blog geschrieben habe, waren diese Momente schließlich fixiert. Ein Gedankenstrom war entstanden. Als ich während des Corona-Lockdowns die Möglichkeit bekam, den Blog zu kürzen und in Form zu bringen, habe ich eine Perspektive in die Erzählung eingezogen, einen geistigen Blickwinkel, den ich im Geschäftsjahr 2009/10 so vielleicht nicht gehabt habe.

Der „Gedankenstrom“ ist eine Fiktion, die mich total fasziniert. Ich frage mich ganz ernsthaft: Gibt es das Leben nach dem Tod? Was ist Wiedergeburt? So, wie der Mensch die DNA entschlüsselt hat, kann ich mir vorstellen, dass man irgendwann in der Lage sein wird, auch die Gedanken zu entschlüsseln, als ob das eine chemische oder spirituelle Formel ist. Und das mag dann, wahrscheinlich ähnlich wie die KI, ganz große Folgen für die Menschheit haben. Also, dass der ganze Planet zu einer Amöbe wird, weil alle miteinander connected sind.

In Dissonanz lasse ich die Leserinnen und Leser an meinem Stream of Consciousness teilhaben. Natürlich nicht den ganzen Gedankenstrom, der wäre ja endlos, aber eben einen Ausschnitt. Dazu gehört, dass das zu einer Art Sing-Sang wird, eigentlich einem Gesang. In den kann man eintauchen und wieder aussteigen, quasi einchecken und auschecken.

Meine Zeit bei der Spex war im Rückblick aberwitzig. Ich lebte ein äußerst privilegiertes Leben, traf Menschen wie Claude Lanzmann, Gilbert & George, Grace Jones, Robbie Williams oder Damien Hirst, wurde in die teuersten Restaurants eingeladen, aber ich habe so gut wie kein Geld verdient. Alle Details, alle de facto erlebten Dinge wären in der Erinnerung verschwommen zu einem eingeebneten Vierjahresbrei. In Blade Runner sagt der Replikant zum Schluss: „Alles, was ich gesehen habe im Leben wird verschwunden sein, wie Tränen im Regen.“ Dieser angekündigten, riesigen Erinnerungslücke wollte ich entgegenwirken, nicht zuletzt, weil ich Kinder habe, vor denen die Erinnerung nicht kapitulieren soll. Also schrieb ich alles auf.

Erst im Akt des Editierens hat das Schreiben dann einen Rhythmus bekommen, einen Gesang bekommen und wurde damit vielleicht zu Literatur. Durch diese Arbeit wurde dieser Gedankenstrom zu einem Code. Das war eine große Freude, als ich merkte, wie sich der Rhythmus des Romans herausschälte, wie die Taktung der Informationsdichte zu einem Stilmittel wurde und wie wichtig Wiederholungen sind, dass sich vieles wiederholt oder vermeintlich wiederholt, wie wichtig Listen sind, konkrete Poesie … Und das half mir dann bei jedem Satz: kann rein, muss drinbleiben, kann raus, hier braucht es noch was…

Aber es gibt ja eine Zeitspanne dazwischen, zwischen dem Jetzt-Schreiben, was du damals erlebt hast, und der Wiederaufnahme fürs Buch sind dann zwölf Jahre vergangen. Du hast die Spex 2010 verlassen, die Zeitschrift wurde 2018 eingestellt. Warum musste der Blog als Buch erscheinen?

Ich hätte es gern früher editiert, aber dann wäre es mit Sicherheit nicht so geworden, wie es jetzt geworden ist. Ich bin aber sehr glücklich über das Ergebnis, von daher war es vielleicht genau richtig. Dass ich damals trotz meines Postens als Chefredakteur ein prekäres Leben geführt habe, habe ich in Kauf genommen. Denn das Schreiben, das Fotografieren, die Musik, die Filme, die Kunst, das ist eben auch ein Wert oder von mir aus: eine Währung. Nach über 30 Jahren existieren jetzt Tausende von Texten und Abertausende von Fotos, außerdem Kompositionen und Bücher, für die man zwar jeweils kaum Geld bekommen hat, die aber einen eigenen Wert haben, und das ist mehr als nur etwas Ideelles. Dadurch, dass die meisten Sachen in Massenmedien veröffentlicht worden sind, haben die Texte ja immer auch eine potenzielle Leserschaft von Hunderttausenden bis Millionen Menschen. Und ich sehe das auch an der Resonanz, die ich bekomme, dass wildfremde Leute mich kennen, obwohl ich gar nicht berühmt bin.

Doch, du bist berühmt, du bist Max Dax.

Ja, weil man sich den Namen so gut merken kann.

Bekanntheit ist das Resultat der Kanäle, für die ich schreibe. Das sind ja Massenmedien – auch wenn im Falle der Spex kein Wohlstand damit einher ging.

Ich weiß nicht, ob der Wohlstand in der Presse überhaupt noch kommt, das ist schon vorbei, glaube ich.

Ich stand mehrfach vor der Entscheidung: Mach ich’s weiter oder nicht, und ich hab’s stets weiter gemacht. Denn solange man mit guten Freunden gemeinsam gut essen und reden kann, dann ist das Leben auch lebenswert.

Und das sagst du in Luxemburg …

Der Punkt ist: Die Zeit, die Liebe, was ist eine Erzählung? Wer ist der Autor? Das sind die Themen, um die es in Dissonanz geht, das sind alles Währungen, die man sich mit Geld nicht kaufen kann. Dieses Leben, das ich gelebt habe, war ein schnelles Leben mit vielen Ortswechseln. Vieles erlebt man da nur flüchtig, aber es gibt regelmäßig diese intensiven Momente. Wenn es einem gelingt, die festzuhalten, dann wird Flüchtigkeit in Stein gemeißelt wird.

Auch hier, unsere Gesprächssituation, dient ja dem Zweck, dass Erinnerungen, Erfahrungen festgehalten werden. Wenn das gedruckt wird, dann ist es für immer da.

Dein letztes Buch Was ich sah, war die freie Welt besteht aus 24 Gesprächen mit Künstlerinnen, Musikern, Kuratoren. Wie bringst Du sie zum Sprechen? Du scheinst deine erste Frage immer mit einem Haken zu stellen, immer mit einer unerwarteten Frage, die überrascht. Das ist angesichts von Gesprächssituationen, die oft von Film- oder Plattenfirmen organisiert werden, die sich Werbung für ihre Produkte erhoffen, nicht selbstverständlich. Ich finde deine Gespräche sind eher ein Austausch auf Augenhöhe.

Das ist natürlich jedes Mal eine Stresssituation, denn ich möchte jedem und jeder gerecht werden. Aber ich kann natürlich nicht alle Bücher gelesen und alle Platten gehört haben.

Deshalb geht es in jedem Gespräch um so eine Art absolute Präsenz im Moment und um eine Aufladung des Kurzzeitgedächtnisses. Die erste Frage muss, gerade wenn die Zeit begrenzt ist, auf eine freundliche Art und Weise deutlich machen: „Das ist jetzt hier Ernstfall“. Also für den oder die Interviewten ist es ein Ernstfall, die wollen sich nicht langweilen, deren Zeit ist auch kostbar. Aber es ist auch ein Ernstfall für mich, ich muss rausgehen mit einem guten Gespräch – und das heißt für mich, dass ich im Dialog persönlich etwas gelernt habe, dass ich einen Perspektivenwechsel erfahren habe.

Jede Person, mit der ich ein Gespräch führe, ist für mich somit eine Art Privatdozent oder -dozentin, und das jeweilige Medium ist eine Art Akademie der Erkenntnis. Und die erste Frage muss mein Gegenüber erreichen. Ich bereite mich den Tag, die Stunden vorher intensiv vor. Klar, ein Buch lese ich dann schon über die Wochen vorher, aber ich lese immer auch Interviews, die meine Gegenüber im Ausland gegeben haben. Also, wenn ich beispielsweise einen deutschen Maler interviewe, dann suche ich auch nach Interviews, die der in Amerika oder England gegeben hat, und zwar so viele wie möglich von denen.

Um einerseits zu sehen, wie so eine internationale Perspektive auf die Person aussieht, und andererseits, um zu vermeiden, die gleichen Fragen wie alle anderen zu stellen. Das ist teilweise schade, weil es oft tolle Fragen, tolle Antworten sind, aber die muss ich mir dann eben verkneifen. In fast jedem dieser Interviews gibt es ein Moment, wo ich beispielsweise denke – wow! – jetzt redet mein zukünftiges Gegenüber über Andrej Tarkowski! Den finde ich ja auch ganz toll, aber vielleicht aus anderen Gründen. Und der Interviewer, der geht da gar nicht drauf ein. Das ist dann für mich die Erlaubnis, mein Gespräch vielleicht genau dort anzufangen: Weil da weiß ich, dass die andere Person zu Tarkowski eine Meinung hat, und ich kann hier anknüpfen, an ein bereits geführtes Gespräch anknüpfen – als ob ich mich in einen Gedankenstrom einwähle.

Es geht immer um Empathie und Vertrauen, und wenn ich es schaffe, durch eine erste oder zweite Frage diese Empathie zum Ausdruck zu bringen und das Vertrauen aufzubauen, dann bekomme ich plötzlich ganz andere Antworten auf Fragen, die vielleicht schon hundertmal gestellt worden sind. Weil dann klar ist, dass in mir ein genuines Interesse am Anderen vorhanden ist.

Beiden ist ja bewusst, dass alles, worüber gesprochen wird, anschließend in einer Zeitung oder einem Magazin zu lesen sein wird. Und meine Aufgabe ist es, anders, als im persönlichen Gespräch unter Freunden, den Kern der Persönlichkeit meines Gegenübers herauszuarbeiten.

Ein veröffentlichtes Gespräch ist somit immer ein Übersetzungsakt, und ich rede von der Übersetzung gesprochener Sprache in Schriftsprache, damit das, was da an Komplexität drin ist, auf dem begrenzten Raum des zur Verfügung stehenden Platzes auch wirklich als Essenz vermittelt werden kann. Und das ist schön, das ist für mich Verdichtung und damit hat auch ein Gespräch oftmals eine literarische Qualität, weil es durch dieses Editieren und das Kürzen natürlich darum geht, an die Essenz ranzukommen.

Dissonanz spielt 2009-2010, das waren deine letzen Monate als Chefredakteur der Spex, auch wenn das Buch dieses Ende nicht mehr behandelt. Die Spex gibt es heute nicht mehr.

Die Einstellung der Spex 2018 war ein historischer Fehler.

Warum hast du denn die Chefredaktion dann verlassen?

Ich habe aufgehört, weil ich nicht krank werden wollte. Krank aber wäre ich sicherlich geworden, wenn ich weitergemacht hätte. Denn das ganze Umfeld war zum Schluss toxisch. Dabei haben wir eine schwarze Null geschrieben, das war ja das Irre, wir erreichten damals die höchste Auflage, die die Spex je verzeichnet hat: knapp 30 000 Exemplare. Und ich dachte immer, wenn man erfolgreich ist, wenn man die Zahlen nicht nur liefert, die Erwartungen sogar übertrifft, dass dann nicht ständig die eigene Arbeit in Frage gestellt wird. Dem war aber nicht so.

Es gibt in jedem Sprachraum nur sehr wenige funktionierende Kanäle. Die große Schwierigkeit liegt immer darin, dass ein Kanal von den Leserinnen und Lesern als glaubwürdig und relevant akzeptiert wird. Schafft ein Titel dies, ist die Herkulesaufgabe erledigt. Der Rest ist Kür. Und wenn ein solcher Kanal trotzdem defizitär sein sollte, dann muss man da halt Stellschrauben stellen. Aber man stellt einen funktionierenden Kanal wie die Spex nicht einfach ein.

Und bereits lange bevor die Spex eingestellt wurde, war es ein permanenter Kampf, dass die Relevanz, die wir mit der Spex erreicht hatten, nicht kurzfristigen Marketing-Ideen geopfert wird. Ich spürte 2010 ganz klar: Das ist wie Don Quijote, das ist Kämpfen gegen Windmühlen.

Will man die Relevanz bewahren, muss man aber kämpfen, denn die Leserschaft hat ein ganz feines Gespür dafür, ob ein Magazin Haltung hat, oder ob darin auch Texte auftauchen, die Gefälligkeiten sind. Relevanz ist das Gegenteil von Gefälligkeit und Affirmation, und das spüren die Leute intuitiv, auch wenn sie vielleicht nicht immer das medienkritische Vokabular haben, um das selber auszudrücken. Sie kaufen dann halt einfach das Magazin nicht mehr. Das ist ihre Art, es zu sagen, und es ist leichter, eine Zeitschrift nicht mehr zu kaufen, als Leute zu finden, die sie anschließend zum ersten Mal kaufen. Es ist leider einfacher, mit anzuschauen, wie die Auflage fällt, als sie, noch dazu in der größten Krise von Print, wie wir sie Ende der Nullerjahre erlebt haben, sogar zu steigern.

Warum war die Spex in deinen Augen denn so relevant im deutschen Pressewesen?

Zunächst einmal: Die versammelten Artikel der Spex aus fast 40 Jahren repräsentieren nichts weniger als das popkulturelle Gedächtnis der BRD. Und jedes neue Heft hatte das Potenzial oder die Aufgabe, diesem Gedächtnis ein paar Seiten hinzuzufügen. Die Spex war ein Filter. Selbst da noch, als das Internet bereits die Möglichkeit bot, sich selbst alles anzuhören oder anzugucken. Man kann sich heutzutage ja selber zu allem eine Meinung bilden, weil alles sofort streambar ist.

Früher hatte die Spex eine klare Gatekeeper-Funktion: die Spex sagte: Das ist jetzt gut oder nicht, sie machte eine diskursive Vorauswahl, gab Orientierungspunkte, wo die Reise hingehen könnte. Die Spex war wie eine kommentierte, kontextualisierte Premium-Spotify-Playlist. Eine typische Ausgabe der Spex bot einen dialogischen Zugang zu sehr berühmten Leuten, die mit dem Magazin zu sprechen bereit waren, und einen unverbrauchten, neuen Blick auf neue, unbekannte Künstlerinnen und Künstler, wo wir als Spex-Redaktion versucht haben, Königsmacher/innen zu sein: Wir hatten den Anspruch, die Stars der Zukunft zu entdecken, um diese Relevanz zu behaupten. Stars freilich im Sinne von Andy Warhols Superstars – unsere Stars.

Und wenn etwas neu in der Spex präsentiert wurde, dann konnte man die Uhr danach stellen, wann das nicht nur in deutschen Feuilletons oder anderen Zeitschriften oder im Radio, sondern teilweise auch im Ausland aufgegriffen wurde. Heute fehlt diese Instanz, das heißt, es fehlt diese Vorauswahl, und plötzlich sind es eigentlich nur noch die Promoter, die sagen, das ist jetzt das neue Ding, oder der persönliche Geschmack eines Redakteurs. Aber es gibt eben nicht mehr diese Umlaufbahnen, diese Satelliten, die da ins popkulturelle Bewusstsein, in diese Crystal Ball reingeschossen werden.

In Dissonanz veröffentlichst du ein „Manifest für die Zeitschrift der Zukunft“, geschrieben am 31. August 2009. Eine Zeitschrift habe „weniger Meinungen zu verbreiten, eher Chronik der Ereignisse zu sein, Kontextualisierung und übergeordnete Narrative zu liefern“. Würdest du diesem Ideal auch heute noch zustimmen?

Ja, genau, das denke ich auch heute noch. Keiner braucht Meinungen. Wir sehen ja, wo Meinungen hinführen. Die führen zu Fake Facts und oder zelebriertem Fantum oder zelebriertem Hass. Das ist die hässliche Realität der Meinungen. Natürlich kann auch ein Chronist eine Meinung haben. Aber eine Chronik seiner Zeit zu schreiben, in der Tageszeitung jeden Tag, im Magazin alle ein oder zwei Monate, das ist die eigentliche Qualität.

Als Jugendlicher habe ich den Musikexpress gelesen und diesem geglaubt, es stand da ja so geschrieben, dass Yoko Ono eine Hexe sei, die die Beatles kaputt gemacht hat. Und dann kaufte ich mir 1983 meine erste Spex, und darin war ein Artikel über Yoko Ono, und ich weiß noch, wie ich dachte: Aha, die alte Hexe wieder, da lese ich mal rein – und plötzlich steht da, was die für eine grandiose Künstlerin ist. Und wie sehr sich John Lennon glücklich schätzen durfte diese Frau getroffen zu haben. Und da dachte ich, Moment mal, das ist ja ein komplett anderer Blick auf die Welt, und dieser Blick ist im Zeitschriftenregal nur einen Zentimeter vom anderen Blick entfernt.

Eine „Zeitschrift der Zukunft“ ist natürlich möglich. Sie wird nur anders aussehen, als wir das vielleicht denken. Sie muss die Welt darstellen und in Frage stellen, in der wir leben. Sie muss verständlich sein, und das Layout darf nicht einem Selbstzweck folgen, es muss dienen. Ob die nun unbedingt auf Papier gedruckt sein muss, ob sie nun unbedingt in der jeweiligen Landessprache verfasst sein muss, das weiß ich nicht. Das sind aber technische Fragen, die sich erübrigen werden, weil durch Spracherkennung und KI derzeit ohnehin alles umgewälzt wird. Die Zeitschrift der Zukunft wird wahrscheinlich interaktiv sein, also digital, und man sagt, in welcher Sprache man sie lesen möchte. Das wird ein paar Jahre lang holprig sein, aber irgendwann wird es perfekt funktionieren.

Ich mag die Idee, dass eine publizistische Aktivität auch ein Marathon ist, dass es nicht nur so ein Peak ist, sondern dass sie sich in die Zeit einschreibt, dass sie sich auf einer anderen Ebene erst in der Dauer erfassen lässt…

Ja. Genau darin liegt die Süße: Beschreibe das, was du siehst. Jochen Distelmeyer von der Band Blumfeld hat mal diesen schönen Satz gesungen: „Kommst du mit in den Alltag?“. Das ist für mich die allergrößte Liebeserklärung, die man aussprechen kann. Also dieses Versprechen, es ist zwar nur der Alltag, aber es wird gerade deswegen geil.

Wenn man es schafft, zu zweit den daily grind so hinzubekommen, dass man abends denkt: Schade, dass der Tag schon vorbei ist, inklusive schreiender Kinder, Saubermachen, Essen kochen und allem drum und dran – das ist das Leben. So einfach ist es.

Und das kann man eigentlich eins zu eins auf das Medium Zeitschrift übertragen. Also alles, was gestellt, behauptet, Meinung ist, ist wahrscheinlich ein Stück weit weg vom Alltag und weg von der Echtheit.

Und natürlich gehört zum Alltag auch der Peak. Alltag heißt ja nicht, dass man jetzt ein sowjetisches Leben führen soll, wo die Lego-Steine grau sind und runde Ecken haben, sondern, nein, es heißt einfach, die Dinge so zu nehmen, wie sie kommen. Carpe diem. Und eine Zeitschrift der Zukunft muss genau das abbilden, das meine ich mit „sie muss Chronistin sein“. Und ich glaube, dann bekommt diese Zeitschrift der Zukunft auch ihre Leserinnen und Leser. Das passiert automatisch, denn die Dinge sprechen sich ja rum.

Aber: Je vermeintlich profaner das Thema ist, desto präziser muss die Sprache sein. Die Sprache muss dann perfekt sein, sie muss so sitzen, dass jedes Füllwort sich selbst entlarvt. Nur so wird plötzlich aus dem Alltäglichen etwas Besonderes. Das war für mich auch der Schlüssel zur Dissonanz.

Ich finde Dissonanz unheimlich intim. Du gibst so viel preis von dir, etwa wenn du über deine Begegnungen mit Claude Lanzmann berichtest, oder wenn du dich über ein Steak Frites im Le Chartier freust oder im Zug von Rom nach Neapel sitzt und aus dem Fenster schaust. Ich finde das unheimlich intim, dieser kleine Mensch im großen Umfeld...

In Dissonanz gibt es allerdings auch eine Behauptung von Intimität. Vieles hat tatsächlich stattgefunden, aber anderes ist mit lyrischer Lizenz geschrieben. Im Prozess des Schreibens und des Editierens bekommt alles seinen eigenen Rhythmus. Das ist ähnlich wie beim Kinofilm, wo die Geräuschspur genauso wichtig ist wie die Dialoge.

Und trotzdem gibt es in Dissonanz eine echte Nähe, weil es eben ein echter Gedankenstrom ist. Aber natürlich bleibt bei diesem Gedankenstrom das meiste ausgelassen, und von den übrig gebliebenen zehn Prozent ist viel erfunden. Aber man ist als Leserin oder Leser hoffentlich gerne bereit, dieser Illusion zu folgen, weil man dem Erzähler glauben möchte. Es geht in dem Buch schließlich und schlussendlich um die Frage: Was ist eine Geschichte und was ist ein Roman und wer ist der Autor?

Ja, du nennst es „Roman“, du nennst es nicht „Autobiografie“ oder „Tagebuch“ oder so... Dabei hat mich dein Buch sehr an Andy Warhols Diaries erinnert.

Dein Vergleich ehrt mich. In meinen Augen hat Warhol eines der besten Bücher aller Zeiten geschrieben. Abermals ist Warhol als Autor Chronist. „Taxi mit Basquiat, 10 Dollar.“ „Aperol Spritz mit Jodie Foster, 17 Dollar“. „Salat mit Grace Jones, 25 Dollar.“

Dissonanz ist ein intertextueller Roman und so angelegt, dass man ihn, egal, wo man das Buch aufschlägt, wie eine Tageslosung lesen kann, wie die Bibel oder den Talmud. Und dann sieht man ja sehr schnell: sprechen die aufgeschlagene Seite, der Tag, ein Satz zu mir? Das reicht ja schon. Am Ende ergibt sich immer eine Geschichte. Und wenn man das unchronologisch liest, was ja völlig erlaubt ist bei diesem Roman, dann ergeben sich halt hundert Geschichten. Wer Dissonanz von der ersten bis zur letzten Seite liest, wird ebenfalls belohnt, es gibt nämlich doch eine Auflösung.

Das Buch erzählt von 365 und einer Nacht, damit ist es eigentlich ein Märchen.

Aber es gibt auch ganz viele Naturbeobachtungen, besonders aus dem Zug – du bist Zugfahrer.

Ja, ich bin auch gestern neun Stunden im Zug von Berlin nach Luxemburg gefahren, und ich habe keine Sekunde bedauert. Ich habe Zugreisen lange Jahre als lästig empfunden, überhaupt Reisen jeder Art, Bus, Zug, Flugzeug, alles lästig, weil tote Zeit. Und dann habe ich Peter Handkes Mein Jahr in der Niemandsbucht gelesen, wo er sich über viele Seiten darüber auslässt, wie die Vögel abends in die Platanen fliegen und zwitschern, genau gegenüber dem Café des Voyageurs. Man könnte sagen, es ist absolute Zeitverschwendung, es ist viel zu langsam erzählt, es sind viel zu lange Sätze, es ist eigentlich wie Marcel Proust. Aber der erste Teil der Niemandsbucht gehört zum Besten an Literatur, was es in deutscher Sprache gibt. Und deshalb wurde ihm auch zu Recht den Nobelpreis verliehen…

Diese Art und Weise, wie er zum totalen Stillstand kommt in der Naturbetrachtung, hat mich schon sehr beeindruckt. Er wird dann zum Chronisten der eigenen Gefühle, des eigenen Blicks. Ich weiß noch diesen Moment, wie ich irgendwann mal im Zug zwischen Frankfurt und Wiesbaden saß, rausguckte und dachte, das ist ja eigentlich alles total interessant, was ich hier durch die getönten Scheiben des Intercity Express sehe. Das ist ja genau wie in der Niemandsbucht. Und seitdem habe ich mich auf keiner einzigen Bahnfahrt mehr auch nur eine Sekunde gelangweilt.

Eine deiner Herangehensweisen ist die Überschreitung der Genres und die Zusammenführung verschiedener Kunstformen, zum Beispiel von Kunst und Musik mit Ausstellungen, die du kuratierst, wie Hyper! 2019 in den Deichtorhallen, oder zuletzt mit I’m Not There – The Invisible Influx of Music on Art Anfang des Jahres in der Galerie Zidoun-Bossuyt in Luxemburg. Wie kam es dazu?

Ich bin 2017 angesprochen worden vom Intendanten der Deichtorhallen, weil der von der von Lucia Margarita Bauer und mir betriebenen Galerie der Gespräche in Berlin gehört hatte. Er suchte nach einem Kurator für eine Ausstellung über Musik und Kunst, und diese Person sollte aus der Musik kommen, nicht aus der bildenden Kunst. Er fragte mich nach einem Ausstellungskonzept. Und ich schlug ihm eine Kunstausstellung vor, in der die Kunst, die man sieht, ausnahmslos nur deshalb existiert, weil sie unter dem Einfluss von Musik oder von Konzepten aus der Musikwelt entstanden ist. Wir sehen die Musik aber nicht. Wir können sie auch nicht hören.

Aber ab dem Moment, wo man die drei nötigen Schlüsselsätze Kontext hinzugibt, die erklären, wieso dieses Werk ohne Musik nicht existieren würde, dann hat a) die Ausstellung einen roten Faden, und b), werden die Besucherinnen und Besucher die Ausstellung als veränderte Menschen verlassen.

Kunst ist nun einmal nicht allein aus der Kunstwissenschaft und aus der Kunstgeschichte heraus erklärbar, sondern vielleicht auch aus popkultureller Sicht oder aus einem Blickwinkel, den man als Betrachter oder Betrachterin intuitiv kennt – aus Songs, die man kennt. Und dann hat mir der Intendant das Vertrauen ausgesprochen und mir ein immenses Budget anvertraut.

Das war deine allererste Museumsausstellung. Du hast also auch noch nie mit einem solchen Budget gearbeitet. Ist das nicht wahnsinnig stressig?

Ich weiß noch, wie der Intendant und ich dann zum ersten Mal durch die leere Halle gegangen sind, mit knapp 3 500 Quadratmetern immerhin die größte Ausstellungshalle in Deutschland. Er fragte mich: „Und? Hast du Angst? Hast du keinen horror vacui? Knick, knack? Jeder Kurator hat diese Angst, gib es doch zu!“ Aber tatsächlich fühlte es sich eigentlich so an, als müsste ich bloß ein neues Magazin produzieren. Nur, dass es eben nicht 164 Seiten stark ist – das war die Seitenzahl einer Ausgabe der Spex – sondern doppelt so viel. Im Rückblick denke ich: Ich hatte bis dahin nie eine Ausstellung gemacht, aber mir ist Hyper! total leicht von der Hand gegangen, als ob ich in meinem Leben nie etwas anderes gemacht hätte.

Und es war eine tolle Ausstellung, und dann war die ja noch äußerst erfolgreich. Es war bis dato sogar die dritterfolgreichste Ausstellung in der Geschichte der Deichtorhallen. Und dann ist Hyper! weitergewandert nach Rotterdam, da hieß sie dann Black Album/White Cube, da musste ich dann auf 1 500 Quadratmetern in der Kunsthal mit einer stark komprimierten Künstlerliste noch mal näher zur Essenz kommen. Und anschließend kam dann – nachdem durch die Corona-Epidemie alles wieder auf Null gestellt worden war – die I’m Not There-Ausstellung in Luxembourg-Ville, noch mal so eine Essenz, weil es dort nur noch acht teilnehmende Künstlerinnen und Künstler/innen gab. Da gab es dann eine Fokussierung auf Malerei.

Was hast du denn vorher von Luxemburg gewusst?

Ich dachte, ihr wohnt hier auf einem Berg, der ist voller Stollen und in diesen Stollen ist Gold gelagert, denn Gold stinkt nicht… Und dann fahre ich mit dem Zug hierher, und kaum ist die Landesgrenze passiert, höre ich, wie sich die Menschen auf Luxemburgisch-Deutsch unterhalten. Ich dachte nur: die ist ja schön, diese Sprache. Das schönste Deutsch, das ich je gehört habe.

Erzähl doch noch vom De Cecco-Deal, das ist ja eine super Geschichte in Dissonanz: ihr habt 2009 eine Tonne Pasta von De Cecco als Sponsoring verhandelt…

Meine Zeit als Chefredakteur bei der Spex empfand ich als eine permanente Art Abwehrschlacht gegen die öden Marketing-Ideen des Verlages. Statt zu überlegen, was man mit einem funktionierenden Kanal alles anstellen kann, wie man den aufbohren kann, wie man mit den neugewonnenen Leserschichten – das waren eher ältere und betuchtere Leserinnen und Leser als junge – andere Anzeigenkunden gewinnen kann, wollte man, dass sich die Spex-Leserschaft wieder verjüngt, damit die bestehende Werbekundschaft besser erreicht wird.

Ich hatte einen Vorschlag: Vielleicht wäre es einen Versuch wert, die Redaktion auszugliedern. Der Verlag verantwortet das Marketing, den Druck und den Vertrieb und bekommt die ganzen Einnahmen. Und die Löhne der Redakteure, Fotografen und die Miete für das Redaktionsbüro, die werden von einer Stiftung getragen. Und für die Stiftung, da hätte man halt bei erfolgreichen Malern und Fotografen, die um die Relevanz des Titels wissen, um ein paar Hunderttausend bitten müssen. Das wären ein paar Gemälde für die unabhängige Stimme der Popkultur gewesen. Aber der Verlag lehnte diese Idee rigoros ab.

Ein anderer, weit weniger radikaler, Ansatz war: Wie wäre es, wenn wir die Webseite einfach komplett auf Englisch umstellen, dafür aber auch das Archiv der letzten Jahrzehnte online stellen – auf deutsch, aber sukzessive auch in englischer Übersetzung. Dann haben wir erstens eine x-fach so große Leserschaft. Die Brand, vor allem aber die Inhalte, wären damit zudem in die internationale Welt rausgetragen worden. Wir kannibalisieren zudem das gerade erschienene Heft nicht. Das heißt, die Leute, die es auf Deutsch lesen wollen, müssen sich das Heft kaufen. Fast alle Ideen und Vorstöße, die ich machte, wurden aber stets abgelehnt.

Von Verlagsseite kamen absurde Vorschläge wie der, dass wir bei jeder Fotosession stets eine Flasche eines Bier-Herstellers mit im Bild platzieren sollten. Bei Brian Eno, bei Jochen Distelmeyer, bei Kendrick Lamar, so zufällig, halb leer getrunken oder auch umgefallen. Hauptsache, man kann das Etikett noch erkennen.

In der Redaktion kochten wir damals täglich Pasta von De Cecco zum Mittagessen. Das war die Spex-Kantine, in der alle einmal am Tag gemeinsam am Tisch saßen. Auf den De-Cecco-Packungen stand eine Telefonnummer in Italien. Da habe ich angerufen und gesagt, wir haben hier folgendes Problem: Die Leute wollen hier mit Schleichwerbung die journalistische Integrität des Magazins untergraben. Wir würden Ihnen gerne ein Deal anbieten und zwar: Ihr De Cecco-Logo in der Unabhängigkeitserklärung der Zeitschrift, dem Impressum, ein Jahr lang, dafür bekommen wir eine Tonne Pasta – und wir jagen diese News durch alle Medienkanäle, die es gibt.

Eine Delegation der Redaktion wurde dann nach Pescara eingeladen, dem Firmensitz von De Cecco. Ol’ Dirty Hossbach und ich sind dorthin geflogen. Die haben uns in einem Palasthotel am Strand untergebracht. Es war wirklich toll. Die ganze absurde Geschichte kann man in Dissonanz nachlesen.

Ich weiß noch, wie die fragten: wieso nur eine Tonne? Aber „eine Tonne“ klingt nun einmal besser als 2 700 Kilo, es lässt sich einfach besser kommunizieren.

Und dann: Wir bekamen die Tonne Nudeln, und es wurde eine Presseerklärung rausgeschickt. Der Spiegel, die Tagesschau, Deutschlandradio, Taz, FAZ, alle haben drüber berichtet. Und in diesen Interviews habe ich immer gesagt: Die einzige Schleichwerbung, die es in der Spex zu sehen gibt, ist das De Cecco-Logo im Impressum.

Und statt, dass man anerkannt hat, was die Spex für ein unglaubliches mediales Potenzial hat – du hast irgendeine absurde Idee und du kommst in die Feuilletons und in die Tagesschau damit – begann für mich der Anfang vom Ende. Und so erzählt Dissonanz dann auch in einer Nebenerzählung davon, wie ich mich im Grunde selbst aus der Spex herauskatapultiert habe. Das ist im Rückblick, gerade jetzt, wo es die Spex nicht mehr gibt, schon alles sehr schade. Aber hätte ich den Job weiter gemacht, hätte ich nie die Zeit gefunden, um Dissonanz oder all die anderen Bücher zu schreiben. Und ich hätte vermutlich auch nicht angefangen, Museumsausstellungen zu kuratieren.

Zuletzt erschienen von Max Dax: Dissonanz – Ein austauschbares Jahr; Merve Verlag, Leipzig, 2021; und „Was ich sah, war die freie Welt“ – 24 Gespräche über die Vorstellungskraft; Kanon Verlag Berlin, 2022

josée hansen
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