„Wo die Hegemonie der Ökonomie bröckelt, entsteht wieder Raum für die Soziologie“, schreibt Heinz Bude in seinem Aufsatz „Auf der Suche nach einer öffentlichen Soziologie“1, in dem er die in den USA entstandene Bewegung der Public Sociology2 nach Europa holen will. Eine Bewegung, die aus dem akademischen Elfenbeinturm heraustritt, um in einer Zeit von Fake News der Öffentlichkeit auf eine verständliche Weise Deutungshilfe zu geben. Die dadurch intendierte gesellschaftliche Selbstreflexion würde auch in Luxemburg Not tun, und bei dem neuerdings wieder auf der Tagesordnung stehenden Umgestaltungsprozess der Universität müsste ihr neben der rein akademischen Professional Sociology und der anwendungsorientierten Policy Sociology ein Platz eingeräumt werden.
Der Soziologie wird nachgesagt, dass sie einfache Zusammenhänge unnötig verkompliziere und in ein unverständliches Fachchinesisch übersetze. Dieses Missverständnis beruht darauf, dass die Soziologie den Alltag der Menschen und auch deren Verständnis von diesem zum Gegenstand hat. Ihre wissenschaftlichen Ausarbeitungen und Bemühungen geraten immer auch in Konkurrenz zum Alltagsbewusstsein, das zum Funktionieren des Einzelnen in einer gegebenen Lebenslage notwendig ist. Man und frau wird in eine historisch gewachsene Gesellschaft hineingeboren und empfindet diese, besonders wenn es keine Brüche in ihrer Lebenslaufbahn gibt, als natürlich. Früher hätte man gottgegeben gesagt. Man und frau müssen ihrem Leben einen Sinn geben, es gegenüber sich und den anderen legitimieren. Mit der Auflösung traditionaler Bindungszusammenhänge wie Familie, Klasse, Geschlecht, Religion und so weiter entstehen neue Freiheiten, aber auch neue Unsicherheiten. „Die Menschen sind zur Individualisierung verdammt“ (Ulrich Beck), und dem lebenslangen Werkeln an der eigenen Bastelbiografie entspricht eine nicht enden wollende Selbsterkundung und Suche nach Identität.
Im akademischen Feld entspricht dem eine Abkehr von der empirischen Erforschung gesellschaftlicher Realität. Doing Identity heißt die Parole, und die Kulturwissenschaft wird zur neuen Leitwissenschaft. Doch die Diskursanalyse wird zur Nebelmaschine, wenn sie die Erforschung der Bedingtheit der verschiedenen Diskurse ausblendet.
Gegen den Common Sense und auch dessen Widerspiegelung in manchen akademischen Diskursen sowie, noch schwieriger, gegen die eigenen Vorurteile, versucht die Soziologie ihren eigentlichen Gegenstand, den fait social (Durkheim) oder das soziale Handeln (Weber), zu konstruieren. Dabei stellt die „Denegation“, eine Verneinung des Offensichtlichen im Freud’schen Sinne3, zum Beispiel der Kleinheit des Luxemburger Landes, ein Hindernis dar, dessen Überwindung umso schwieriger ist, da eine Verdrängung und Ausblendung dieser Tatsache eine Voraussetzung zur Teilhabe am Gemeinwesen, sozusagen zur kollektiven Lebenslüge wird.
Kleinstaaterei
Trotz des Souveränitätsverlustes der Mitgliedstaaten der EU zugunsten supranationaler Instanzen, trotz der zunehmenden Entmachtung der Staaten durch die Finanzmärkte, trotz des Entstehens einer globalen Konsumkultur wird die Lebenswelt der Menschen noch weitgehend nationalstaatlich bestimmt. Paradoxerweise gilt dies verstärkt für den Kleinstaat Luxemburg, weil dessen Wohlstand auf der Vermarktung seiner noch verbleibenden Souveränitätsnischen basiert.
Der zu zahlende Preis ist eine von der nationalen Politik kaum zu beeinflussende Wachstumsspirale und das Odium der Steueroase. Eine noch einschneidendere Auswirkung ist eine Verflüchtigung der Luxemburger Gesellschaft, im Sinne von Baumans liquid society. „Laksembörg City“ (Serge Tonnar) wird zur globalen Stadt, bevölkert von einer transnationalen Diaspora aus Bankern, Fi-
nanzangestellten und Dienstleistern sowie Eurokraten. Und dazwischen die Alteingesessenen, die, wenn sie nicht über das nötige Verankerungskapital in Form von Immobilien und von auf der traditionellen Mehrsprachigkeit beruhenden Bildungsabschlüssen und Posten verfügen, in die wenigen noch relativ erschwinglichen Wohnlagen zum Beispiel im Norden des Landes oder gar ins nahe Ausland verdrängt werden.
Die Berücksichtigung der Kleinheit als zentralem konstitutiven Element des Luxemburger Gemeinwesens ist die Voraussetzung, um überhaupt Handlungsspielräume der Politik jenseits der von den Big Four entworfenen Blaupausen ausloten zu können, während deren Denegation zu einem Pendeln zwischen Ohnmacht und Größenwahn verleitet. Letzterer äußert sich im Traum von der Kolonisierung des Weltraums unter der Flagge des roten Löwen … aber auch in einer am realen Bedarf der Luxemburger Gesellschaft vorbei wildwüchsig gewachsenen Universität Luxemburg.
Uni.lu
Wenige Allgemeinplätze – wie Mehrsprachigkeit, Forschungsorientierung und Internationalität –, ein utilitaristisches Wissenschaftsverständnis und der Wunsch, mit renommierten Forschungsunis konkurrieren zu können, bildeten die Hauptvorgaben für die Entwicklung der neuen Universität. Hochschulpolitik als Nation Branding „to put Luxembourg on the map“.
Trotz der über lange Zeitstrecken im Überfluss zur Verfügung stehenden Geldmittel wurde die Entwicklung der Universität durch einen künstlichen Wettbewerb zwischen Disziplinen und Projekten gesteuert. Wissenschaftlicher Sozialdarwinismus als Steuerungsprinzip unter Aufsicht und Federführung ausländischer Experten, die den von Bourdieu beschriebenen „apparatchiks de la recherche“4 nahekommen. Unter dem Vorwand, die Qualität der Projekte zu bewerten, wurden in Wirklichkeit oft disziplinäre Schwerpunktsetzungen getroffen. Éloïse Adde sieht darin eine neo-liberale Strategie und geht sogar so weit, die Finanzierungskrise der Uni Anfang 2017 als künstliche Verknappung der Mittel zu brandmarken, um so ein opportunistisches Argument für sowieso geplante Einsparmaßnahmen zu haben5. Eine im Prinzip richtige, aber etwas überzogene Interpretation, da die Krise doch wohl eher einen Nebeneffekt beim Übergang aus der exponentiellen Wachstums- in eine Konsolidierungsphase darstellt.
Während des Entwicklungsbooms fiel es leicht, die Tatsache, dass unsere Universität eigentlich eine kleine Uni ist und eine solche trotz des Geldsegens, wegen des fehlenden Hinterlandes notgedrungen bleiben wird, zu verdrängen. Spätestens wenn die Konjunktur nachlässt, wird man sich darauf besinnen, dass nicht alle Universitäten im Spiel der Großen, im Ringen um Fleischtöpfe der Exzellenz-Cluster mitspielen können. Es gibt auch ehrbare Aufgaben für mittlere und kleine Universitäten, und das nicht nur in Luxemburg, wie Robert Harmsen in einem Land-Beitrag zur Universitätsdebatte mit dem aus den USA stammenden Konzept der Flagship University gezeigt hat. Dabei handelt es sich in der Regel um die größte und älteste öffentliche Universität eines Bundesstaates, die bewusst andere Missionen übernimmt als die prestigeträchtigeren Institutionen der Ivy League6. Ben Fayot setzt sich seit je her für eine université de service public ein, zuletzt im Land mit einem Vorschlag, zumindest eines ihrer vom Gesetz vorgesehenen Interdisziplinären Forschungszentren der Politikberatung, insbesondere in der Sprachenfrage, zu widmen7. Ich selber hatte mich bereits 2003 zu Wort gemeldet mit einem Plädoyer für ein Centre interdisciplinaire d’études sur le Luxembourg (CIEL), für eine auf das Großherzogtum und die Großregion zentrierte empirische Sozialforschung, Geschichte, Volkswirtschaft und Sprachwissenschaft8.
„Vivre demain au Luxembourg“
Es ist hier nicht die Stelle, die Geschichte dieser Initiative zu schreiben oder gar des darüberhinausgehenden Kampfes, die Human- und Sozialwissenschaften überhaupt in den Genuss der Förderung durch den Fonds national de la recherche (FNR) zu bringen, in den sie sich einordnet. Hauptergebnis dieser hauptsächlich von den Forschern des Centre der recherche public – Centre universitaire getragenen Bemühungen war das mittlerweile eingeschlafene Forschungsprogramm „Vivre demain au Luxembourg“. Im Hauptförderprogramm des FNR, genannt Core, gibt es zwar noch den Eintrag „Societal Challenges“ als eine von fünf Forschungsprioritäten, doch im Project Finder auf der FNR-Internetseite erscheint kein einziges Projekt in dieser Rubrik. Es soll allerdings nicht unterschlagen werden, dass es daneben eine Rubrik Humanities and Social Sciences mit dem einen oder anderen Projekt gibt, das auch unter der nunmehr verwaisten Kategorie der gesellschaftlichen Herausforderung firmieren könnte; so zum Beispiel das hochdotierte Pearl-Projekt von Louis Chauvel zur sozialen Ungleichheit.
Auch haben sich einige Fachsoziologien an der Universität etablieren können (zum Beispiel Jugend-, Alters-, Bildungs-, Gesundheits-, Migrationssoziologie und so weiter). Sie betreiben weitestgehend das, was im angelsächsischen Sprachgebrach Policy Sociology genannt wird, indem sie als Experten der Verwaltungen und als Problemlösungslieferanten für gesellschaftliche Konfliktkonstellationen auftreten. Ihre Anerkennung und Legitimierung verdanken sie nicht zuletzt der Drittmittel-Akquise. Nicht zu vergessen das aus dem Ceps-Instead hervorgegangene Liser-Institut, das zumindest in seiner Selbstbeschreibung sich auch der Policy Sociology widmet: „LISER is an independent institute for social and economic research addressing policy relevant issues based on state-of-the-art scientific methodology.“
Neben der hier kurz besprochenen angewandten Soziologie gibt es keine akademische Soziologie (Professional Sociology) im eigentlichen Sinne. Wünschenswert wäre ein Lehrstuhl für Makrosoziologie zur Erforschung der Grenzen nationaler Souveränität im Spannungsfeld von Europäisierung und Globalisierung, unter besonderer Berücksichtigung der spezifischen Luxemburger kleinstaatlichen Bedingungen. Er könnte die bestehenden Ansätze bündeln, um ihnen eine größere Sichtbarkeit zu geben, und im Sinne der Public Sociology eine Brücke zur Öffentlichkeit und zur Zivilgesellschaft, einen Ort für die gesellschaftliche Selbstreflexion darstellen.
Doch die Erforschung der Luxemburger Gesellschaft nicht nur durch Soziologen, sondern auch in anderen Disziplinen, kann nur stattfinden, wenn diese vom FNR und universitätsintern explizit gefördert wird, ohne dass sie in einen aussichtslosen, weil von Anfang an verzerrten Konkurrenzkampf mit Natur- oder Ingenieurwissenschaften geschickt wird. Der Vorwurf, dass so ein Reservat für eine Nationalwissenschaft geschaffen würde, kann leicht mit dem Hinweis, dass auch die Erforschung eines kleinen Gegenstandes auf Augenhöhe und in permanentem Austausch mit der internationalen Scientific Community geschehen kann, entkräftet werden.