Russlands offener Krieg

Ukraine allein‘ zu Haus

d'Lëtzebuerger Land vom 05.09.2014

Der Westen opfert die Ukraine. Daran ändern auch alle Sanktionen nichts mehr, die die Europäische Union diese Woche erarbeitet hat und die sie bis zu diesem Wochenende beschließen will. Im Finanzsektor, bei Dual-Use-Gütern, bei Personen und Institutionen sollen die Sanktionen verschärft werden. Besonders von Sanktionen im Finanzbereich, die russischen Unternehmen und Banken die Refinanzierung erschweren, verspricht sich die Europäische Union eine große Wirkung.

Alle bisher im Rahmen der russischen Aggression gegen die Ukraine beschlossenen Sanktionen hatten den Sinn, Russland nach der gewaltsamen Annexion der Krim von weiteren kriegerischen Handlungen gegen die Ukraine abzuhalten. Diese Politik der europäischen Mitgliedstaaten ist vollständig gescheitert. Jede weitere Sanktion dient im Kern nicht mehr der Abschreckung, sondern ist zu einer bloßen Strafmaßnahme für schon begangene Taten herabgesunken, denn Russlands Präsident Wladimir Putin hat diese Woche klargemacht, dass er um keinen Preis zulassen will, dass die Ukraine die Separatisten militärisch besiegt.

Unterdessen erobern die Separatisten jeden Tag mit massiver russischer Unterstützung weitere Städte, Dörfer und strategische Positionen. Wer weiß, vielleicht haben sie bis zum Erscheinen dieser Zeitung schon Mariupol eingenommen, eine Stadt mit knapp 500 000 Einwohnern am Asowschen Meer. Sie verfügt über einen wichtigen Hafen, einen großen Flughafen und ist ein bedeutendes Zentrum der ukrainischen Wirtschaft. In Mariupol haben die Separatisten im Frühjahr ebenso wie in Odessa versucht, die Herrschaft an sich zu reißen, sind damit damals aber gescheitert. Mit direkter russischer Hilfe wird es ihnen nun womöglich gelingen. Spekulationen über russische Versuche eine Landverbindung zur Krim herzustellen, machen die Runde. Russland soll angeblich Schwierigkeiten haben, die Halbinsel angemessen zu versorgen.

Wieder einmal ist Europa an einen Punkt angelangt, an dem es sich vergewissern muss, worum es eigentlich geht. In der Ukraine hat eine Revolution gegen ein korruptes Regime stattgefunden, weil ein entscheidender Teil der Bevölkerung sich dazu entschlossen hatte, europäische Werte, europäisches Rechtverständnis und eine echte europäische Demokratie für ihr Land durchzusetzen. Die zahlreichen Flaggen der EU, die auf dem Maidan geschwungen wurden, waren dafür beredtes Zeichen. Neben diesen Werten ging es auch um die Hoffnung auf Wohlstand. Die Ukraine soll beim Zusammenbruch des Ostblocks über ein höheres Pro-Kopf-Einkommen als Polen verfügt haben. Heute ist das Pro-Kopf-Einkommen Polens vier Mal höher. Die Ukraine hat seit ihrer Unabhängigkeit über 20 Jahre Oligarchie, Misswirtschaft und Korruption hinter sich. Hier liegt vielleicht der wichtigste Grund, warum das Land heute eine leichte Beute Russlands geworden ist.

Dennoch will man sich allem Anschein nach nicht dem Anspruch Russlands kampflos beugen, allein und nach Gutdünken über das Schicksal der Ukraine zu entscheiden. Der Ukraine fehlen jedoch mehr und mehr die Mittel dazu. Im Westen ist niemand bereit, den Ukrainern Waffen zu liefern. Alle wichtigen Akteure haben das auch in dieser Woche wieder deutlich gemacht: Barack Obama, Angela Merkel, François Hollande, David Cameron. Putin wurde schon seit der Annexion der Krim immer wieder versichert, dass weder die USA, noch die Nato, noch die EU militärisch in der Ukraine eingreifen werden. Das hört sich auf den ersten Blick sehr vernünftig an, bedeutet aber für die junge ukrainische Demokratie, dass sie weitgehend allein der Großmacht Russland gegenübersteht. Der Bürgermeister von Kiew, Vitali Klitschko, beschwerte sich Anfang der Woche darüber, dass die Kurden massive Hilfe gegen den Islamischen Staat bekämen, die Ukraine aber nicht einmal Pflaster und Verbandszeug aus dem Westen erhielte. Das zumindest hat sich geändert. Die deutsche Regierung hat bestätigt, dass sie nun bereit ist, medizinisches Material, Schutzwesten und Feldlazarette zu liefern, nachdem der ukrainische Antrag wochenlang nicht bearbeitet wurde.

Meldungen am Mittwoch, die Ukraine und Russland hätten einen dauerhaften Waffenstillstand vereinbart, entpuppten sich schnell als ukrainisches Wunschdenken. Sie deuten aber an, dass sich die Ukraine nicht mehr in der Lage sieht, die Separatisten militärisch zu besiegen. Sollte es demnächst doch zu einem Waffenstillstand und Verhandlungen mit den Separatisten kommen, so wird das Ergebnis dieser Verhandlungen der Verlust des Ostens für die Ukraine sein. Wenn Kiew der Ostukraine eine weitgehende Autonomie zugesteht, dann wird der „freiwillige“ Anschluss an Russland nicht allzu lange auf sich warten lassen. Russland hätte sein Spiel gewonnen, die Ukrainer und Europa beim Kampf um europäische Werte eine empfindliche Niederlage erlitten. Die Hypothek, die auf der Zukunft der Ukraine lastet, ist schon heute erdrückend: circa eine Million Flüchtlinge und 2 600 Tote sowie zerstörte Städte und Industrieanlagen.

Die Nato versuchte derweil auf ihrem Treffen am Donnerstag und Freitag im walisischen Cardiff den Eindruck zu erwecken, sie könne mit dem Aufbau noch schnellerer Eingreiftruppen und rollierender Stationierung zusätzlicher Soldaten die baltischen Länder vor Russland schützen. Die Abkommen, die sie mit Russland getroffen hat, werden dabei peinlich genau beachtet. Nicht einmal das Aussetzen dieser Verträge wird in Erwägung gezogen. Wer hätte gedacht, dass das Wort Appeasement 75 Jahre nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs wieder zu so großen Ehren kommt? Man glaubt in der Nato und der EU offenbar immer noch an die Vernunft Putins, weil man sich etwas Anderes weder vorstellen kann noch will. Die Ukrainer zahlen dafür gerade die Zeche.

Christoph Nick
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