Facebook

World Wild Web

d'Lëtzebuerger Land vom 23.06.2011

Heute loben wir die Unverzichtbarkeit von Facebook. Das Ehepaar Greene aus Whitehouse (Texas) wandte sich kürzlich mit einer bahnbrechenden Mitteilung an die Öffentlichkeit. Nach einer Echographie stand für Frau Greene fest, dass sie im dritten Monat schwanger ist. Ihre frohe Botschaft an das amerikanische Volk lautet: Freut euch und staunet, mein Fötus ist schon auf Facebook! Das wäre an sich ein Tatbestand von vollendeter Lächerlichkeit. Aber nur auf den ersten Blick. Denn die Botschaft geht weiter: Mein Fötus hat auf Facebook schon 350 Freunde! Jetzt wird es ernst. Jetzt geht es um Freundschaft.

Wagen wir kurz einen Sprung nach Japan. Nicht erst nach dem Fukushima-Debakel tritt eine zunehmende Zahl von Japanern den Rückzug in die eigenen Gemächer an. Für die innere Emigration gibt es viele gute Gründe, nach der Nuklearkatastrophe spielt hier möglicherweise ein plausibler Schreckensreflex. Nichts mehr hören und sehen wollen von der bedrohlichen Welt, sich tot stellen, die Bereitschaft zum sozialen Umgang kündigen, all das können wir ohne weiteres nachvollziehen. Aber jetzt kommt der Clou. Diese gleichen Japaner, die sich quasi lebendig begraben in ihren Wohnungen, kommunizieren wiederum auf sonderbare Weise mit Gleichgesinnten.

Sie lassen sich bei ihrer demonstrativen Reglosigkeit von Kameras beobachten. In anderen Worten: sie halten die Innenansichten aus ihrem starren Kokon für mitteilenswert. Die Bilder stellen sie ins Netz, jeder kann also via Internet verfolgen, wie diese Japaner ihren Kommunikationsverzicht ausleben. Freiwillig Eingeschlossene bieten anderen Gesellschaftsdeserteuren an, auf einer gemeinsamen Plattform Spielarten der privaten Kapitulation auszutauschen. Da entsteht also eine neue Gemeinschaft aus lauter Gemeinschaftsflüchtlingen.

Was soll öffentlich gemacht werden? Bisher gab es einen stillen Konsens, dass es sich lohnt, Bewegung in allen Ausprägungen zu dokumentieren. Bewegung ist gleichbedeutend mit Leben, unabhängig davon, ob es sich um konstruktive oder destruktive Impulse handelt. Alle Medien sind unsäglich scharf auf die unscheinbarste Bewegung. Sobald sich irgendwo auf dem Planeten irgendetwas rührt, folgt auf dem Fuß die mediale Ausschlachtung. Das japanische Syndrom aber besagt etwas völlig Gegensätzliches: hier wird die Bewegungslosigkeit zur Sensa-tion. Die einzige Bewegung in diesem Prozess wird an die Kamera delegiert. Da technische Apparaturen aber leblos sind, schließt sich der Kreis. Scheintote lassen ihren Lebensverzicht von toten Maschinen aufzeichnen.

Der künftige Mensch namens Greene, der jetzt noch ein Fötus ist, passt genau in diese Konstellation. Er kann sich noch gar nicht mitteilen, wird aber schon an die gigantische Mitteilungsmaschine namens Facebook weitergereicht. Bevor er zur Welt kommt, ist er schon ein gut ausgerüstetes virtuelles Wesen. Wahrscheinlich reicht die Phantasie realer Menschen nicht aus, die entsprechenden Kommunikationsformen auszudenken. Die 350 Freunde dieses Facebook-Fötus stammen ihrerseits vermutlich aus der embryo community, dem neuesten Geschäftsbereich des sogenannten sozialen Netzwerks. Da die Facebook-Betreiber jetzt die automatische Gesichtsentschlüsselung als bedeutenden Fortschritt preisen, können wir demnächst die embryonalen Konterfeis im Netz besichtigen: alle ein bisschen ET-mäßig zerknautscht, aber irgendwie ganz schön munter und voll fixiert auf ihre Karriere als reglose Freundschaftspropagandisten.

Dürfen wir annehmen, dass der neue Freundschaftsbegriff nicht vor weiteren Verfeinerungen haltmacht? Warum sollte man erst als Fötus in die Freundschaftsarena steigen? Freundschaft ist doch nicht altersgebunden. Je früher, desto besser. Wenn wir das texanische Greene-Modell zu Ende denken, spricht einfach nichts mehr gegen folgende Freundschaftswerbung: „Hallo, ich bin ein Samenfaden, du findest mich seit kurzem auf Facebook. Ich zähle schon 1 283 Samenfäden zu meinen Freunden. Wir alle haben einen großen Wunsch. Wir möchten unbedingt Freundschaft schließen mit aufgeschlossenen Eizellen. Wir könnten uns austauschen und einen fruchtbaren Dialog aufnehmen.

Meine Hobbys sind: Partys, Discos, ungezwungenes Herumtollen, ausschweifende Wanderungen zu verborgenen Sehenswürdigkeiten, tägliche Gymnastik, Konditionstraining, Tiefseetauchen, Flirten, Bungee-Springen. Willst du meine Freundin sein, liebe Eizelle? Ich verspreche dir, täglich von meinen vielfältigen Expeditionen zu erzählen. Wie wäre es mit einem date im World Wild Web? Du wirst dich nicht über mich beschweren. Ich bin sehr beweglich, ein quicklebendiger Tausendsassa, das können dir meine Freunde aus der Samen-Szene bestätigen. Wir werden viel Spaß miteinander haben, ich bin übrigens auch Kampfschwimmer und habe schon mehrere Wettbewerbe im nassen Element gewonnen. Schau dir doch mal mein Foto auf Facebook an. Ich bin der schnuckelige Kerl mit der Baseballmütze und der betörenden Taille. Du wirst mir nicht widerstehen können.“

Guy Rewenig
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