War es die Macht der Gewohnheit gewesen? „FSFL-Kongress 16. März 2002“ war die Blattsammlung mit Tagesordnung und Statutenentwürfen betitelt, die rund 300 aktive und pensionierte Briefträgerinnen und Briefträger am letzten Samstag im Walferdinger Kulturzentrum in den Händen hielten. Da aber war der Beschluss zur Auflösung der FSFL bereits seit sechs Wochen alt, und die Nachfolgeorganisation sollte aus der Taufe gehoben werden.
Wer etwas übrig hat für Zeichen, die über sich selbst hinaus verweisen, könnte den kleinen Lapsus so deuten, dass der Bruch mit der Vergangenheit so einfach nicht zu haben sein wird und die Zukunft der am Samstag neu gegründeten Bréifdréieschgewerkschaft längst nicht klar ist. Solch Denken wäre nicht nur Metaphysik: Wie desaströs das materielle, wie schwer das moralische Erbe der Nickts-Affäre ist, wurde am Samstag nicht nur daran deutlich, dass Roger Losch, der kommissarische Präsident, zum Versammlungsbeginn sichtlich froh den Beitritt von bis dahin 506 Briefträgern zur neuen Gewerkschaft verkündete, die nach der Liquidation der FSFL finanziell wieder bei Null anfängt: 500 bis 600 würden gerade so die Kosten decken, hatte man vorher ausgerechnet. Die Basis indessen ist höchst sensibilisiert nach den Finanzmachenschaften des Ex-Präsidenten. Entsprechend hoch her ging es zuweilen während der Debatte zu den Statuten der neuen Gewerkschaft. Soll etwa ein Kassenbericht turnusgemäß nur alle drei oder sechs Monate erstellt werden, oder sollen die Revisoren der Gewerkschaft ihn jederzeit verlangen können, und muss er dann auch sofort erstellt werden? – Keineswegs ein technisches Detail für die Briefträger im Saal, die jederzeit einen sofortigen Bericht verlangten. Das würde aber schwer werden, wandte Generalsekretär Carlo Birchen ein: „Wir haben keine hauptamtlichen Kassenprüfer wie OGB-L oder LCGB.“ Und schlug eine Ausarbeitungsfrist von einem Monat vor. „Viel zu lange!“, tönte es zurück. Man einigte sich auf eine Woche, aber auch in diesem Zeitraum, meinten manche, könne jemand „noch irgendwas verstecken“.
Einen nachträglichen Wutausbruch aller Anwesenden zog Jos. Nickts auf sich. In einem noch vor Beginn des Kongresses in der Samstagsausgabe des Luxemburger Wort veröffentlichten Leserbrief aus der Untersuchungshaft hatte er das Postsyndikat der CGFP den „politischen Gegner“ der Briefträger genannt, zu dem sie „auf keinen Fall überlaufen“ sollten. So verständlich die Ablehnung eines Ratschlags aus der Feder des Finanzjongleurs auch war: Die Partnerschaft mit dem Postsyndikat, die die angeschlagene Bréifdréieschgewerkschaft nach dem definitiven Beschluss ihrer neu gewählten Exekutive vom Dienstag anstrebt, ist keine Traum-, sondern eine Vernunfthochzeit mit einer gewissen Option auf die Zukunft.
Das hat mit Geld am wenigsten zu tun. Zwar musste Interimspräsident Losch am Samstag feststellen: „Wir waren mal reich, sind nun aber arm wie eine Kirchenmaus.“ Ein Jahr lang will das Postsyndikat auf die Beiträge der Briefträger verzichten, was vielleicht weniger interessant ist als die Offerte, die bereits Ende Januar das Banken- und Versicherungssyndikat Aleba machte: Vermutlich, um in ihrer Suche nach nationaler Repräsentativität auch in andere Sektoren vorzustoßen, hatte sie sich unter allen Interessenten an der Konkursmasse der FSFL am großzügigsten gegeben und den Briefträgern umgehend „son conseil et son aide financière pour la mise au point d’une nouvelle structure syndicale digne de ce nom“ angeboten (d’Land, 25. Januar 2002).
Nickts selbst war es gewesen, der unmittelbar nach dem großen Beamtenstreik vom Juli 1998 Gespräche mit der CGFP über ein eventuelles erneutes Zusammengehen nach der Trennung 1985 aufnahm. Keinesfalls jedoch wollte er sich auf einen regelrechten Beitritt einlassen, sondern so viel Souveränität für die FSFL wie nur möglich herausschlagen. Weil daraus nichts wurde, verliefen die Verhandlungen im Sande.
Diese Position der Stärke hat die Bréifdréieschgewerkschaft heute nicht mehr. Das liegt nicht nur an ihrer akuten Krise. Neben dem CGFP-Postsyndikat hatte die in Auflösung befindliche FSFL auch mit dem FNCTTFEL-Landesverband Sondierungsgespräche über einen eventuellen Beitritt geführt. Als Interessenvertreterin kleiner Beamter steht sie dem Landesverband ohne Frage politisch nahe. Jahrelang focht sie mit ihm und der Syprolux für eine Beteiligung dieser drei Gewerkschaften an den Gehälterverhandlungen im öffentlichen Dienst – ohne Erfolg, sie blieben Domäne der CGFP. Das hielt den Landesverband vergleichsweise schwach; noch schwächer wurde er nach dem Weggang des Straßentransportsyndikats Acal zum OGB-L vor einem Jahr. Keine Frage, dass er mit den Briefträgern einen strategischen Verbündeten verliert, politisch noch einflussloser und dazu verurteilt wird, sich allein für die Belange der Lehrbeauftragten und der assimilierten Staatsbeamten der CFL einzusetzen. Und den weiter schwindenden Einfluss womöglich durch eine noch stärkere Einmischung in die Unternehmensführung der CFL auszugleichen und sich damit bei deren Direktion noch unbeliebter zu machen.
Wenn Landesverbands-Präsident Nico Wennmacher nun sagt, man habe „immer gewollt, dass der typische Briefträger-Syndikalismus erhalten bleibt“, spricht daraus allerdings längst nicht nur Ärger über den Korb der Briefträger. Vor wenigen Monaten erst hatten sich 90 Prozent der Mitglieder von Landesverband, FSFL und Syprolux in einer Ilres-Umfrage für eine stärkere Zusammenarbeit der drei Gewerkschaften ausgesprochen, die daraufhin sogar vertraglich festgehalten werden sollte. Ob das Postsyndikat der starke politische Partner für die Bréifdréieschgewerkschaft sein wird, ist so sicher nicht. Ihre Auseinandersetzung mit der Postdivision und dem Verwaltungsrat der EPT etwa um die Frage der Schließung kleiner Post-Büros, welche die EPT für unrentabel hält, und deren Ersatz durch Post-Shops in Lebensmittel- und Zeitungsläden oder Tankstellen hat die FSFL in der Vergangenheit allein geführt, und bei der symbolischen Begräbnisfeier nach der Schließung des „Relais“ in Kautenbach vor zwei Jahren legten nur FSFL-Briefträger einen Kranz nieder – nicht aber die im Postsyndikat vertretenen höheren Beamten, die in größeren Postämtern die Vorgesetzten der Briefträger sind oder an den Schaltern sitzen. Noch stehen die größeren Ämter nicht zur Disposition. Wenn Mitte April der Verwaltungsrat der EPT über die Ergebnisse des im August 2000 gestarteten Postshop-Pilotprojekts in Tankstellen in Ingeldorf und Frisingen sowie in einem Schreibwarengeschäft in Howald berät, wird die Partnerschaft der Briefträger mit dem Postsyndikat ihre erste große Bewährungsprobe erleben: Für die Postdivision der EPT sind diese Postshops schon deshalb eine Erfolgsgeschichte, weil Tankstellen wie die in Ingeldorf mit einer Öffnungszeit von sechs Uhr morgens bis 23 Uhr abends weitaus attraktiver sind als die eines Postbüros, dessen Schalter nur ein bis zwei Stunden täglich in Betrieb sind. Dass die unattraktiven Öffnungszeiten freilich von der Postdirektion selbst festgelegt werden, hatte die FSFL bisher entschieden stärker aufgeregt als das Postsyndikat. Vielleicht, weil in so kleinen Ämtern Briefträger als préposés fungieren. Auch die noch von der FSFL erhobene Forderung, die wegen der steten Zunahme an Reklamesendungen wachsende Arbeitsbelastung der Briefträger durch den Aufbau eines zweiten Verteilernetzes zu mindern, betrifft die höheren Beamten nicht unmittelbar.
Aber all das könnte sich ändern. In dem Mitte Oktober 2001 von den für Post und Telekommunikation zuständigen Ministern der EU abgesegneten Kompromiss über die weitere Liberalisierung der Postdienste wurde ab 2003 die Freigabe des Marktes für alle Briefsendungen ab 100 Gramm beschlossen und nicht ab 150, wie es noch ein Jahr vorher eine breite Ablehnungsfront gefordert hatte, die jedoch immer weiter erodierte. Ab 2006 sollen Sendungen von mehr als 50 Gramm frei gegeben werden. Nicht auszuschließen ist, dass im selben Jahr eine Studie der EU-Kommission zu dem Ergbenis kommt, dass die für Unternehmen wie die Luxemburger EPT überlebenswichtige Reservierung grenzüberschreitender Sendungen doch eine Wettbewerbsverzerrung darstelle – und sich ab 2009 auch die EPT mit Konkurrenten in jedem Postsegment auseinandersetzen muss und sich damit das Rentabilitätsdenken noch verstärkt. Die Zukunftsoption der Partnerschaft von Bréidréieschgewerkschaft und Postsyndikat heißt „Schicksalsgemeinschaft“, und die wird umso inniger, je stärker der Postdienst dereguliert wird. Was beide Gewerkschaften eigentlich verhindern wollen.
Romain Hilgert
Kategorien: Soziale Beziehungen
Ausgabe: 24.01.2002