324 Seiten Kriminalroman, und am Ende hast du keinen Schimmer, wer der Täter ist. Auf diese schlichte Kernbotschaft ließe sich Guy Helmingers neuer Roman Lärm bringen – zu Unrecht. Nach 49 Kapiteln endet der ermittelnde Kommissar Gerd Schnok mit den Worten: „Trotzdem wollte er nicht verhehlen, dass ihm das genaue Sezieren des Falls nach wie vor nicht gelungen sei, vieles sich im Laufe der Monate relativiert habe und er sich nicht zwischen Konrad Schnittweg als Terroristen, als Drogen und Menschen handelndem Kriminellen oder als Opfer entscheiden könne.“ War es nun doch der verschollene Psychotherapeut Konrad Schnittweg, der den Medien einen abgetippten politischen Hetzbrief mit einer Morddrohung zuspielte? Plante der zutiefst lärmempfindliche, verschlossene Verdächtige ein Attentat auf neoliberale Akteure? Oder hatten sich egozentrische Vertreter der Regenbogenpresse und geschäftstüchtige Schleuser gegen ihn verschworen?
Literatur kann Handwerk sein. Literatur kann Kunst sein. Lärm ist beides. Wie ein hochkompliziertes, teils überkonstruiertes Straßennetz fügt Helminger Sitzungsprotokolle, Ermittlungsberichte, Befragungen und dubios erstellte Audio-Aufnahmen ineinander, dazu hetzende Artikel aus der Regenpresse sowie ein über den Psychotherapeuten bestehendes Romanfragment. Aus diesen unterschiedlichen Erzählsträngen ergibt sich ein fiktives Gefüge an biografischen, psychologischen und politischen Informationen über Schnittweg aus den Jahren 2001 bis 2019. An zahlreichen Schnittstellen zwischen den kapitelweise angelegten Quellen schlägt der Autor Brücken, um Zusammenhänge herzustellen und zugleich eine Fülle an Widersprüchen offenzulegen. Denn in diesen Verwebungen ist Guido Immertals autonom-revolutionärer Geist der Schwarzen Zellen genauso ein Motiv für bewusste Falschinformationen wie Axel Keiders Nacherzählung über die einstige Mitschülerin Sabine Weino, die durchs Eis bricht, weil nicht er, sondern Immertal ihren Rucksack auf den zugefrorenen See geschmissen haben soll.
Dieser Roman handelt aber nur oberflächlich von der Suche nach einem Drohbriefautor. Helminger bietet eine Gegenüber- und Nebeneinanderstellung konservativer, neoliberaler und radikal-autonomer Weltanschauungen mit komplexen Figurenzeichnungen. Der Leser macht sich ein Bild und erkennt: Die eine Wahrheit gibt es nicht.
Strukturell offenbart die Lektüre zudem eine dreifache Identität, die über die oft vorschnell gefasste Gleichstellung von Autor und Erzähler hinausgeht:
Der Autor ist Autor. Guy Helminger, 1963 in Esch-Alzette geboren, seit 1985 wohnhaft in Köln, preisgekrönter Schriftsteller, verfasste und veröffentlichte Lärm im Dezember 2021 im Verlag Capybarabooks. Soweit die editorischen Fakten.
Der Autor ist zudem Erzähler. Er ist Chronist einer Ansammlung an Quellen und Archivmaterial, der er Vor- und Nachwort anfügt. Darin reflektiert er über Möglichkeiten der Wahrheitsfindung, sowie über die Beweggründe hinter der entstandenen Collage.
Der Autor ist zu alledem Figur: Kolonialwarenhändler Pleimer spielt ihm Tagebuch-Fragmente zu. Der diensthabende Ermittler Schnok liefert ihm eine Fülle von Archivmaterial im Glauben an die künstlerische Bedeutung eines angekündigten Romans. Schließlich schiebt der Autor ein Telefonat zwischen sich und Schnittwegs erster Frau Silke Bracht zu. Darin setzt sie den Autoren unter Druck, sie als Figur bloß nicht namentlich durch den Dreck zu ziehen. So wird nicht nur der Autor zur Figur, sondern das literarische Schaffen zum literarischen Gegenstand. Lärm wird so zum poetologischen Roman erhoben. Nicht die Ermittlungsarbeiten, sondern der Schreibprozess führt alle Stränge zusammen und die Möglichkeit einer Wahrheitsfindung wird ausgelotet. Alle Figuren müssen etwas zur Aufklärung beitragen oder wollen falsche Fährten auslegen. Alle schreien ihre Sichtweise heraus. So entsteht viel Lärm und wenig Ruhe, nach der der Verschollene – so scheint es – ruft.
Die vielleicht auffälligste Leistung erbringt Helminger, indem er sich vielfältiger Stilfärbungen bedient, um die vielen Blickwinkel möglichst plastisch zu gestalten: Die indirekte Rede im konjunktivischen, gewissenhaften Abwägen unterschiedlichster Thesen des Polizeiberichts; das reißerische Hetzen im Westlichen Tageblatt; die vollständige Wiedergabe der Internationale durch Salon-Kommunisten in der Kneipe „Zur Birne“; schließlich das erzählerisch Tragende im Romanfragment. Helminger trägt stilistisch stellenweise zu sehr auf und bedient etwas abgedroschene Bilder wie den Madeleine-Effekt nach Proust. Auch zieht sich manches Kapitel zu sehr hin. Allerdings wirkt Helminger dieser Gefahr teilweise entgegen, indem er die Quellen nicht komplett nebeneinanderlegt, sondern Bruchstücke hier und dort platziert und die chronologische Ordnung stört.
Guy Helminger hat mit Lärm einen komplexen, bisweilen fordernden, in seiner erzählerischen und stilistischen Architektur durchkalkulierten und weltanschaulich antithetischen Roman vorgelegt. Anfangs erklärt er seinen Lesern, ihm sei klar, „dass ich das Leben von Konrad Schnittweg zusammentragen wollte, nicht als Festlegung, nicht als Biografie, denn ich würde auf die unterschiedlichen Geschichten und Erinnerungen anderer angewiesen sein, um eventuell so etwas wie Fakten nahezukommen, aber als Roman“. Im Nachwort schließt er: „Die Rekonstruktion kann nur zu einem Ganzen führen, wenn man im Besitz aller Teile ist. Das ist hier nicht der Fall.“ Lärm ist Wahrheitssuche, nicht Wahrheitsfindung. An ihrer Stelle wird dem Leser vorgeführt, wie unvollständig das Bild ist, das wir von Menschen haben, und was Wahrheit letzten Endes sein mag: Der Lärm der Masse.