LEITARTIKEL

Am Dach arbeiten

d'Lëtzebuerger Land vom 15.10.2021

Die Erwartungen waren groß: Würde der Finanzminister in seiner Budgetsried vielleicht doch Änderungen am Steuersystem ankündigen? Wenn die große Reform schon ausfällt wegen Corona – vielleicht könnte es kleine Anpassungen geben, Änderungen an der Progression der Einkommensteuertabelle vielleicht?

Doch nachdem Premier Xavier Bettel nichts dergleichen im État de la Nation am Dienstag erwähnt hatte, war es vom Finanzminister am Tag danach beim Depot des Haushaltsentwurfs 2022 auch nicht zu erwarten. Stattdessen hielt Pierre Gramegna es mit John F. Kennedy: „The best time to repair the roof is when the sun is shining“, hatte JFK im „State of the Union“ 1962 gesagt. Gramegna kündigte weiterhin hohe Investitionsausgaben an. 3,2 Milliarden Euro nächstes Jahr, bis 2025 könnten sie auf 3,6 Milliarden steigen. Investiert werde in Schienen, Straßen und Radwege; in Schulen und Spitäler; in Ladesäuler für Elektroautos; ins 5G-Netz und ins Glasfaser-Internet. Sogar mit Quantum Computing soll Luxemburg sich abgeben können.

„Wir können uns das leisten.“ Austerität sei „ein Holzweg“, auch wenn das Defizit der reinen Staatsausgaben 2025 noch 712 Millionen betragen soll. Solche Worte sollen die Opposition kaltstellen, der bei so viel Spendierlaune der Regierung kaum etwas anderes bleibt als einen schnelleren Abbau der durch die Corona-Pandemie gewachsenen Staatsschuld zu fordern, als Gramegna ihn plant. Doch der Finanzminister konnte am Mittwoch vorrechnen, dass die Schuld höchstens um 27 BIP-Prozent oszillieren, aber nie das Limit von 30 Prozent erreichen werde, das die Regierung sich gesetzt hatte. Gar nicht zu reden von den 60 Prozent in den Maastricht-Kriterien. Und da die Luxemburger Wirtschaftsleistung 2020 nicht um sechs Prozent schrumpfte, sondern nur um 1,8 Prozent, für dieses Jahr sechs Prozent Wachstum angekündigt sind und schon Anfang dieses Jahres „der Reichtum von vor Beginn der Krise“ wieder aufgeholt war, konnte Gramegna erklären: „Wir können uns das leisten.“ Austerität sei „ein Holzweg“.

In Infrastrukturen und Energieeffizienz zu investieren, ist sicherlich eine gute Idee. Beihilfen für Innovationen und für Klimaschutz auszureichen, auch. Wenn man sie sich leisten kann – umso besser. Weil in Luxemburg die Finanzbranche ein Drittel der Wirtschaftsleistung liefert und weil Finanzkapital seinen Weg zu Steuerschlupflöchern und Investmentfonds auch findet, wenn die Menschen eine Seuche fürchten müssen, kam das Großherzogtum glimpflich durch die Krise. Doch im Staatshaushaltsentwurf 2022 werden auf der Einnahmenseite 52 Prozent der 19,4 Milliarden Euro aus direkten Steuern (10,1 Milliarden) gedeckt. Hiervon ebenfalls 52 Prozent (5,2 Milliarden) aus Steuern auf Löhnen und Gehältern, den Rest tragen vor allem die Betriebe bei. Diese Akzentuierung sorgt strukturell dafür, dass Luxemburg immer weiteres Wachstum ermöglichen muss, weitere Betätigungsfelder für die dominante Finanzbranche und immer neue Arbeitsplätze. Nur dann lassen sich die hohen Sozialtransfers finanzieren, die nächstes Jahr 47 Prozent der Staatsausgaben ausmachen.

Was dann wieder zu der Debatte über „Steuergerechtigkeit“ führt, die eigentlich auch eine über die Struktur der Luxemburger Wirtschaft sein müsste. Pierre Gramegna deutete es schon an: Investoren schätzten die Zuverlässigkeit und Vorhersehbarkeit hierzulande. Was ein Grund dafür sei, dass 2022 auch auf kleine Änderungen am Steuersystem verzichtet werde. Ein anderer sei die derzeit international laufende Debatte um eine Mindestbesteuerung von Unternehmen.

Vermutlich ist da viel Wahres dran. Denn die Regierung beschränkt sich vorerst auf selektive Sozialpolitik in Kinderbetreuung und Schulessen, eine Anpassung des Révis und eine Erhöhung der Teuerungzulage um 200 Euro. Vor allem für die DP aber wird sich die Frage stellen, wie sie ihre Mittelschichtenwähler/innen bei Laune halten will. Sofern nicht etwa dadurch, dass die geplante Grundsteuerreform und eine Spekulationssteuer erst Ende 2022 konkreter werden, wie der Premier am Dienstag sagte. Und das zu spät wäre, um vor den nächsten Wahlen darüber abzustimmen.

Peter Feist
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