Heim ins Reich

Die Helden und Schurken von nebenan

d'Lëtzebuerger Land du 16.09.2004

Ein wenig ist Claude Lahrs Dokumentarfilm Heim ins Reich auch der Film Gustav Simons. Gegen Anfang des zweistündigen Films sehen wir den Gauleiter und Chef der Zivilverwaltung bei seiner Antrittsrede im August 1940 auf dem Musikkiosk der Place d'armes. Der säuberlich aufgestellten Zuhörerschaft in Uniform verspricht er, dass das drei Monate zuvor besetzte, oberflächlich "verwelschte" Großherzogtum bald zu seinen deutschen Wurzeln zurück-fände. Diese und manche anderen historischen Archivaufnahmen sind kaum bekannt. Sie wurden lange als "Propagandabilder" und damit als mit einem Fluch beladene Unbilder angesehen, oder sind Aufnahmen, deren Verwertung der ziemlich willkürlichen Politik des Koproduzenten CNA unterliegen. Sie bilden das Gerüst der Erzählung, "wéi Lëtzebuerg sollt preisesch ginn", so der Untertitel des Films. Die Erzählung beginnt chronologisch und konzentriert sich dann auf die Resistenz und die Schoah, die Zwangsrekrutierung und die Umsiedlung. Schwarzweißbilder finsterer Zeiten sind von den übersättigten Farbaufnahmen der idyllischen Jahrhundertfeier und der Befreiung eingerahmt. Gustav Simon ahmt in seiner Rede auf der Place d'armes Hitlers hysterisches Stakkato nach, und darauf scheint auch Claude Lahr ein wenig hereingefallen zu sein. Denn wo es ihm an Archivbildern fehlt, lässt Lahr wiederholt einen als Gauleiter verkleideten Schauspieler einsam durch ein Büro stampfen oder mit stummer Verbissenheit zum Telefonhörer greifen. Genau der dämonische Giftzwerg, wie seit einem halben Jahrhundert Hitler im Kino gegeben wird. Diese nachgestellten Szenen wirken ziemlich lächerlich und überflüssig. Aber zumindest beherzigt Lahr den klugen Vorsatz, Nazis nicht durch bessere Schauspieler als sie selbst darstellen zu lassen. Das auf politische Erklärungsversuche verzichtende Geschichtsbild des Films deckt sich weitgehend mit der offiziellen Geschichtsschreibung eines blutigen Kampfs zwischen einem großen, monströsen und einem kleinen, unschuldigen Nationalismus. Doch drei Generationen nach Kriegsende kann der Film zumindest die Wirtschaftskollaboration, den Vorkriegsantisemitismus der katholischen Rechten und den Kampf um die politische Restauration nach der Befreiung erwähnen, wenn auch unter Hinweis auf Forschungslücken meist nur andeutungsweise. Nicht zuletzt mangels Bildern kommt vielleicht auch der Kriegsalltag der überwältigenden Mehrheit der Luxemburger zu kurz, die weder Helden noch Schurken waren, sondern sich duckten und hamsterten. Gegen Ende des Films bestätigt dann der heute 86-jährige Offizier im Ruhestand Aloyse Schiltz seit 1945 zirkulierende Gerüchte, laut denen der in Deutschland untergetauchte Gustav Simon nicht in der Paderborner Haft Selbstmord beging, wie Justizminister Victor Bodson behauptete, sondern lebendig nach Luxemburg zurückgebracht und dort auf höheren Befehl umgebracht worden sei - vielleicht, um kompromittierende Aussagen während einer öffentlichen Ge-richtsverhandlungen zu verhindern. Dabei müsste Aloyse Schiltz es eigentlich wissen: der Krieg machte den Ettelbrücker Pfadfinder zum Berufssoldaten in alliierten Uniformen, der nach der Befreiung die Freiwilligen-Garde aufbaute und das Erschießungskommando befehligte, das zum Tode verurteilte Kollaborateure hinrichtete. Doch es ist nicht wegen solcher Bemerkungen, dass den wichtigsten Teil des Films die Interviews mit 22 Männern und Frauen darstellen, die im Widerstand kämpften, zwangsrekrutiert oder deportiert wurden, Verfolgte versteckten, ins Exil gezwungen wurden oder das KZ überlebten. Die persönlichen Erinnerungen des Arbeiters oder der Bäuerin, des Postbeamten oder jüdischen Geschäftsmanns bieten bis in die Sprache hinein Identifikationsfiguren für die Zuschauer, die erst nach dem Krieg geboren wurden. Erst sie lassen die Schrecken der Unterdrückung und den Mut der Widerstand Leistenden konkret werden. Bewegende Interviewausschnitte und historisches Bildmaterial wechseln sich geschickt ab, so dass niemals langweilige und damit austauschbare Monologe entstehen. Auf die übliche pathetische Effekt-hascherei wurde weitgehend verzichtet. Damit wird der Film, ähnlich Lahrs Stol, seiner didaktischen Absicht weitgehend gerecht: vor dem Tod der letzten Zeitzeugen noch den nachfolgenden Generationen zu zeigen und zu erzählen, was zwischen 1940 und 1945 hierzulande geschah und immer wieder möglich sein wird. 

Heim ins Reich von Claude Lahr läuft ab heute auf Luxemburgisch oder Französisch um 12.00, 14.30 und 19.30 Uhr im Kino Utopolis auf dem Kirchberg.

 

 

Romain Hilgert
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