Theater

„La bêtise insiste toujours“

d'Lëtzebuerger Land vom 20.03.2020

Mort aux cons – Tod den Dummen! Auf Deutsch recht brutal, klingt auf Französisch ein ganz anderer kulturhistorischer Kontext mit, weshalb der Titel der mehrsprachigen Lesung im Kasemattentheater selbstverständlich keinen Aufruf zur Gewalt darstellt. Etwas abgeschwächt, als Aufruf zur Abschaffung der Dummheit, würde es vermutlich jeder unterschreiben – nur wer zu diesen Dummen gehört, denen die Dummheit ausgetrieben werden soll, darüber herrscht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Uneinigkeit (würde sich wohl irgendjemand selbst dazu zählen?).

Und dabei wären wir schon beim Kern der Thematik, um die sich die von Marc Limpach hervorragend ausgewählten Texte drehen. Was ist Dummheit überhaupt? Sind Menschen absichtlich dumm? Ist Bildung eine mögliche Maßnahme gegen Dummheit? Oder liegt die Dummheit in einem ganz anderen Bereich? Und ist diese Lesung „juste une connerie de plus“? Die Selbstreflexion der letzten Frage, die so auf der Bühne gestellt wurde, ist bereits ein entscheidender Schritt zu ihrer Verneinung. Aber ist die geistige Umkehr auf sich selbst ein Garant gegen Dummheit?

In hohem Tempo gehen die exzellenten Schauspieler durch eine Vielzahl von Textausschnitten aus Literatur und Philosophie, aus Briefwechseln und Essays. Zum Beispiel von Walter B. Pitkins, der vor fast 90 Jahren in einer kurzen Einleitung zur Geschichte der menschlichen Dummheit folgendes konstatierte: „High abilities are often linked with serious stupidity, and in such a manner that the abilities shine before all the world while the stupid trait lurks in deep shadow and is discerned only by intimates or by prying newspaper reporters.“ Eine gewisse Art von Intelligenz schließt eine gewisse Art von Dummheit nicht aus. Welch abscheuliche Folgen extreme Fälle von Dummheit gepaart mit wie auch immer gearteten high abilities haben können, beschreibt nicht zuletzt Hannah Arendt: „Diese Dummheit hat etwas wirklich Empörendes. Eichmann war ganz intelligent, aber diese Dummheit hatte er. Da ist keine Tiefe, das ist nicht dämonisch! Das ist einfach der Unwille, sich je vorzustellen, was eigentlich mit dem anderen ist, nicht wahr?“

Eine nur scheinbar leichtere Perspektive auf die gleiche Thematik bietet ein Ausschnitt aus einem Interview mit Historiker Yuval Noah Harari, der unter anderem über die Zeitverschwendung durch Candy Crush und Katzenvideos spricht: „Ich denke nicht, dass die Menschen dumm sind. Ich sage nur, wir sollten die menschliche Dummheit nie unterschätzen. Menschen tun dumme Dinge. Nicht wegen mangelnder Intelligenz, sondern weil ihr Bewusstsein nicht ausgerichtet ist auf das, worüber sie sich wirklich Sorgen machen sollten.“ Ob aber weniger Katzenvideos schauen wirklich ein Mittel gegen die Dummheit ist? Nicht, wenn man George Brassens glauben kann: „Quand on est con, on est con!“

Der Reichtum an Texten wird von Eugénie Anselin, Véronique Fauconnet, Marc
Limpach und Jules Werner beeindruckend und erstaunlich unterhaltsam vorgetragen. Die Leichtigkeit, mit der insbesondere Jules Werner von Sprache zu Sprache wechselt – Texte britischer Autoren liest er in feinstem British English, diejenigen amerikanischer Autoren in prägnantem American English – lässt staunen. Darüber hinaus wurde der Theaterbesucher von einer Professoren-Karikatur, verkörpert durch Claude Frisoni, mit der quasi-wissenschaftlichen These vertraut gemacht, in jeder Gruppe von Menschen, egal welcher Größe, befinde sich unweigerlich ein gewisser Prozentsatz von Dummen – das Theaterpublikum nicht ausgenommen!

Dieser Abend macht keine Angst, er macht auch nicht wütend, bringt einen vor allem zum Lachen, und ruft dabei doch auch zum Handeln auf – am deutlichsten in der Wiederholung von Jon Stewarts Rat gegen jegliche Bullshitocracy: „if you smell something, say something“ – damit menschliche Dummheit nicht zu Unmenschlichkeit führt.

Manchmal bekommen Veranstaltungen, Monate im Voraus programmiert und geplant, plötzlich und unerwartet eine ganz eigene Aktualität. Um über menschliche Dummheit, Intelligenz oder irgendwelche Mischformen in der jetzigen Pandemie zu urteilen, ist es zu früh, aber wir können hören, was Camus über La peste schreibt: „La bêtise insiste toujours, on s’en apercevrait si l’on ne pensait pas toujours à soi. Nos concitoyens à cet égard, étaient comme tout le monde, ils pensaient à eux-mêmes, autrement dit, ils étaient humanistes: ils ne croyaient pas aux fléaux. Le fléau n’est pas à la mesure de l’homme, on se dit donc que le fléau est irréel, c’est un mauvais rêve qui va passer. Mais il ne passe pas toujours et, de mauvais rêve en mauvais rêve, ce sont les hommes qui passent, et les humanistes en premier lieu, parce qu’ils n’ont pas pris leurs précautions.“

Beim Erscheinen dieses Textes sollte die zweite Aufführung der Lesung bereits stattgefunden haben, wurde nun aufgrund der aktuellen Entwicklungen aber verschoben. Deshalb an dieser Stelle eine klare Empfehlung: Wenn sich das Leben, auch das kulturelle Leben wieder normalisiert, sagen wir gemeinsam der Dummheit den Kampf an und gehen wir ins Theater!

Saskia Müller-Bastian
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