Der Mangel an Secondhand-Kultur zeigt sich auch im Buchhandel. Auf der Suche nach dem verlorenen Antiquariat

Geld isst Seele auf

Schön wär’s: Bücherkästen eines Antiquariats in der Bretagne
Foto: Olivier Halmes
d'Lëtzebuerger Land vom 02.09.2022

In Hay-on-Wye wohnen etwa 2 000 Menschen. Das Dorf in Wales ist als town of books bekannt, mehr als ein Dutzend Bücherläden gibt es dort, mindestens vier davon verkaufen Secondhand-Bücher, zwei davon ausschließlich. Ein schönes per capita. Aber man muss den Blick gar nicht so weit richten: Das 400-Seelen Dorf Redu in den belgischen Ardennen kann sich ebenfalls mit einem Dutzend Antiquariate rühmen. Auch in Metz, Saarbrücken und Trier gibt es Buchhandlungen, die ausschließlich Bücher aus zweiter Hand verkaufen. Hierzulande? Fehlanzeige. Die Google-Suche schlägt das Alinéa und die Librairie Ernster vor.

Nun kann man einwerfen, dass es in Luxemburg an gebrauchten Büchern nicht mangelt. Immerhin stehen mittlerweile in einer Reihe Gemeinden Bicherschief, Telefonkabinen wurden mancherorts zu Bücherregalen umfunktioniert, es gibt Veranstaltungen wie der Book Stand des Internationalen Bazars und Bücherecken wie der Echternacher Quaichleker Bichereck; fünf Mal im Monat kann man die Pabeierscheier in Burglinster oder die Bicherstuff Wooltz besuchen. Im Januar ging mit The Green Library der erste Secondhand-Buchhandel online. Und da sind dann noch die ganzen Bände in der neuen, modernen Nationalbibliothek. All das stimmt, und der Impuls, ungewollte Bücher nicht mehr gleich in die Tonne zu werfen, sondern Plätze für den Tausch, An- und Verkauf ebendieser zu schaffen, ist lobenswert. Doch ersetzen sie den physischen Ort nicht. Gebraucht-Buchhandlungen und Antiquariate fungieren als Orte des Austauschs, tragen zur Weitergabe von Geschichte(n) bei, eröffnen als Fundgrube neue Horizonte. Online-Browsing vermag es nicht, das zutiefst befriedigende Gefühl des Stöberns zu ersetzen, von den anderen Geschichten, die einem gebrauchten Buch innewohnen, mal abgesehen, den kaum entzifferbaren Notizen und vergilbten Widmungen.

Es gibt wenig belastbare Umsatzdaten über die Secondhand und Antiquariatsbranche, die heute fast allesamt ihre Ware zwecks Existenzgrundlage auch im Netz anbieten. Das ZVAB, das Zentrale Verzeichnis Antiquarischer Bücher, war 1996 einer der ersten Online-Marktplätze, auf dem Antiquare ihre Bücher verkaufen konnten, und ist bis heute ein erfolgreiches Unternehmen. Seit 2011 gehört es Abebooks an, einer Tochterfirma von Amazon. Allgemein ist in Großbritannien, den Vereinigten Staaten und Frankreich einer aktuellen Umfrage von Statista nach der Second-Hand-Einkauf am gängigsten. Auch in Deutschland wird viel aus zweiter Hand gekauft: Laut des Momox Second Hand Reports 2022 kaufen 66 % der Befragten gebrauchte Bücher oder andere Medien, was einen Anstieg von 18 Prozent zum Vorjahr bedeutet. Das Einkommen spielt bei dieser Entscheidung scheinbar keine Rolle: Leute, die jährlich zwischen 20 000 und 30 000 Euro verdienen, kaufen nicht mehr oder weniger Gebrauchtes als jene, die über 70 000 an Gehalt verfügen. Die Umfrage zeigt auch den Internet-Impakt auf die Branche. Fast die Hälfte der Befragten kauft Second-Hand auf „Online-Marktplätzen“ (also auch Amazon), 27 % in spezialisierten Onlineshops und 9 % in Secondhand-Läden. Als Motivation gibt die überwiegende Mehrheit den niedrigeren Preis an, gefolgt von Nachhaltigkeit, Bücher sind bei weitem (75 %) am meisten gefragt.

„Es lohnt sich nicht“, sagen die hiesigen Buchhändler. Begründen es mit horrenden Mietkosten, der Mehrsprachigkeit Luxemburgs, die bedeuten würde, dass man Texte in mindestens vier Sprachen anbieten müsste, mit dem Amazon-Riesen, der sowieso alles wegfrisst, mit einem Mangel an Nachfrage, die Jugend lese eh nichts mehr. „Es ist eine ökonomische Überlegung, sich nicht in diesen Markt zu begeben“, entgegnet Fernand Ernster, Direktor der gleichnamigen Buchhandlungs-Kette. „Der Markt ist Nullkommanull, dafür ist Luxemburg zu klein“, sagt Paul Bauler, Geschäftsführer der Buchhandlung Um Fieldgen. Nur Luxemburgensia funktioniere ein wenig, doch auch dort käme keine neue Leserschaft nach, alles andere sei geschenkt. Die Stadt habe zwar die Mietpreise einer Großstadt, den entsprechenden Umlauf jedoch nicht, bei sehr gutem oder sehr schlechtem Wetter etwa blieben die Käufer und Käuferinnen zu Hause.

Hans Fellner, Galerist und Buchhändler, betrieb in den 90-erJahren ein Antiquariat am Knuedler, das auf Luxemburgensia spezialisiert war, dann Fellner Art Books, eine Kunstbuchhandlung neben dem Palast, ein Dutzend Jahre bis 2010 hielt sie sich. Die letzten beiden Jahre kostete eine Baustelle vor der Tür ihn die Hälfte seiner Kundschaft. Er macht das Fehlen eines Antiquariats neben der Landesgröße auch an einem Traditionsmangel fest. In Luxemburg habe es zu der Zeit etwa 100 Sammler gegeben, die seien ausgelaufen. Das intellektuelle Milieu, das eine Universität und ihre Studenten mit sich bringt, und das ein Antiquariat begünstigt, die kritische Masse habe es so in Luxemburg ebenfalls bislang nicht gegeben. Obwohl die Stadt heute knapp 130 000 Menschen zähle, seien viele nur vorübergehend hier und nicht in der urbanen Landschaft verwurzelt. „Auch ist das kein Geschäftsmodell, das mit einem Schuhladen vergleichbar ist – man braucht eine sehr große Passion, das muss man wirklich wollen.“ Eine große Allgemeinbildung, den nötigen Geschäftssinn und ein gewisses Maß an Risikobereitschaft gehörten auch zum Profil. „Die richtige Person zum richtigen Zeitpunkt gab es dafür einfach nicht.“

Die Diskussion bettet sich in einen größeren Kulturwandel ein, in dem der Wert eines ganz normalen Buches abgenommen hat, es „weitestmöglich nach unten dekliniert wurde“ (Hans Fellner). Hier muss man natürlich zwischen vergriffenen Sammlerexemplaren und 50 Shades of Grey-Taschenbüchern unterscheiden, die in so einer großen Überzahl angeboten werden, dass sie letztlich vollständig an Wert verlieren. Für ein Buch mit einem Wert unter 20 Euro lohne es sich allerdings als Buchhändler gar nicht erst anzufangen, online gäbe es immer billigere Angebote, die Schraube drehe sich nach unten, sagt Hans Fellner. Musste man früher jahrelang in Bücherkisten nach einer ersten Auflage von Herrmann Hesses Siddharta suchen, ist sie nun einen Klick entfernt.

Luxemburg hat tatsächlich keine wahrhaftige Second-Hand Tradition, wie man sie zum Beispiel von den charity shops aus Großbritannien kennt. Sie genießen eine viel größere Selbstverständlichkeit und ziehen ein heterogenes Publikum an. Das steht im Gegensatz zur – wenngleich anekdotisch beobachteten – Mentalität der Luxemburger. Die Mittelklasse hier kann es sich doch leisten, warum ein vergilbtes Buch einem neuen vorziehen oder ein getragenes Cocktailkleid aus der Saison von vor fünf Jahren kaufen? Und wehe, man würde dabei ertappt werden, die zum Teil schönen und funktionstüchtigen Dinge, die in Öko- und Recyclingzentren abgegeben werden, mitzunehmen. Dann würde man ja zu den sozial Schwachen zählen. Auch Hans Fellner berichtet von der luxemburgischen Angst vor Stigmatisierung: „Wenn die Familie nach einem Todesfall die Bibliothek auflöste, und dort Bücher mit Ex-Libris, also eingeschriebenen Namen des Onkels und des Vaters dabei waren, schämten sich die Leute, sie abzugeben.“

Anruf bei Martin Barbian, der sein Antiquariat seit 32 Jahren in der Altstadt Saarbrückens betreibt. Für ihn sind viele der genannten Gründe vorgeschobene Argumente, es sei „vollkommen unverständlich“, dass es kein Antiquariat in Luxemburg gebe. Manche Kunden kämen zu ihm, die meiste Luxemburger Kundschaft fahre vor allem jedoch nach Trier. Im digitalen Zeitalter der ständigen Verfügbarkeit müsse man „verrückt“ sein, ein Antiquariat neu aufzumachen, aber dass sich vor Jahren niemand gefunden hätte, um eins in Luxemburg-Stadt zu eröffnen und weiter zu führen, kann er nicht nachvollziehen. Allein mit Faulheit sei das zu erklären, das Saarland sei doch viel ärmer als das Großherzogtum. Mehr noch als in einer herkömmlichen Buchhandlung müsse das Angebot hoch qualitativ sein. Sein Geschäft laufe jedenfalls, er blickt den nächsten zehn Jahren eher positiv entgegen. Dass die Kulturbourgeoisie aussterbe und niemand nachkomme, dem kann er nicht zustimmen: „Hier kommen Zwanzigjährige rein und sagen Sachen wie ‚Ist ja krass schön hier bei euch‘.“ Das findet der Buchhändler „ganz prima“, sie kauften Belletristik und Kinderbücher und Philosophie. Er erkenne vermehrt ein Interesse bei der Jugend, wieder ein bisschen mehr wissen zu wollen, wer man denn eigentlich sei. Ja, das seien natürlich auch Studierende der Universität Saarbrücken. Die Uni.lu wird nächstes Jahr zwanzig Jahre alt, doch in Luxemburg fallen Student/innen bisher kaum ins Gewicht. Auch im Belval-nahen Esch/Alzette hat sich bisher noch keine Secondhand-Buchkultur entwickelt.

Bei jungen Menschen besteht noch Interesse am Buch, auch wenn es eine Randphänomen sein mag: Der Verband deutscher Antiquare vergab vor zwei Jahren bei der Antiquariatsmesse in Stuttgart zum ersten Mal einen Preis für junge Sammler und Sammlerinnen unter 36 Jahren.

Irina Roman, Rumänin und Europaschule-Absolventin, gehört mit Mitte zwanzig streng genommen noch den Millennials an. Sie liest Bücher, auf Papier. Anfang dieses Jahres gründete die Kommunikationswissenschaftlerin mit Master in Marketing The Green Library, den ersten Online Secondhand-Buchladen. Aufgelistet sind dort zum Beispiel Sally Rooneys Conversations with friends für 2,99 Euro, der Taschen-Band Decorative Arts 1920s in sehr gutem Zustand für 14,99 Euro oder The life-changing magic of tyding von Marie Kondo für 5,99 Euro. Bücher, die eine gewisse Expertise voraussetzen, um ihren Wert einzuschätzen, nimmt sie nicht an. Die, die sie als interessant einstuft, verkauft sie weiter, die Verkäufer bekommen einen Teil des Preises. Abgeben kann man seine gebrauchten Bücher entweder bei ihr, oder beim Unverpackt-Laden OUNI, mit dem sie eine Partnerschaft hat. Für sie ist die Situation hier „wohl eine Mischung aus der Kultur und den Erwartungen“. Es müsse alles irgendwie immer glanzvoll-poliert sein, und es gäbe keine bezahlbaren Freiräume in der Stadt. Irina Roman betreibt den Online-Laden derzeit nebenbei, die One-Woman-Show würde sie jedoch gerne in einen physischen Ort umwandeln, bei der Recherche ist ihr allerdings klargeworden, dass die Rechnung als kommerzielles Projekt nicht aufgehen wird. Umso mehr bemüht sie sich nun um ein Konzept für eine Kooperative oder Wohltätigkeitsorganisation, da die Mietkosten dann zumindest gedeckt wären. „Es geht um mehr als um Bücher, ein solcher Ort würde eine Gemeinschaft generieren“, sagt sie. Sie denkt dabei an Buchklubs, an Lesungen. Mehr als die Präselektion und Spezialisierung auf Raritäten und Sammlerbände interessiert sie der Aspekt der Nachhaltigkeit und einen langsamen Sinneswandel, was Konsum angeht. „Ein Buch im Umlauf zu behalten wird vielleicht nicht die Welt retten, aber irgendwo muss man ja anfangen.“

Sarah Pepin
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