Freundliche Strichmännchen

d'Lëtzebuerger Land vom 26.08.2022

Ein Tag in Westdeutschland ist ein Tag mit Otl Aicher. Wer den Bahnhof, Sportplatz oder eine öffentliche Toilette sucht, wird von seinen Bildzeichen geleitet. Ob FSB-Türklinken, das rote „S“ der Sparkassen, der Lufthansa-Kranich, Bulthaup-Küchen oder Firmen-Logos vom Agrarkonzern BayWa bis zum TV-Sender ZDF: wohl kein anderer moderner Designer hat so den Alltag geprägt. Dieses Jahr wird der hundertste Geburtstag des Gestalters gefeiert, der zeitlebens für eine offene, freie Gesellschaft warb.

Otl Aicher wurde am 13. Mai 1922 in eine Handwerkerfamilie in Ulm geboren. Im Dritten Reich wurde der gläubige Katholik nicht zum Abitur zugelassen, weil er sich der Hitlerjugend verweigerte; aus der Wehrmacht desertierte er. Nach dem Krieg studierte er Bildhauerei in München, machte sich dann in Ulm als Plakat-Grafiker selbständig. Er heiratete Inge Scholl, die Schwester der von den Nazis hingerichteten Widerstandskämpfer Sophie und Hans Scholl. Mit seiner Frau gründete er in Ulm die Volkshochschule und im Jahr 1953 – zusammen mit dem Schweizer Künstler Max Bill – die Hochschule für Gestaltung. An der HfG unterrichtete Aicher „visuelle Kommunikation“, zeitweise war er auch ihr Rektor.

„Die kulturelle Bewältigung der technischen Zivilisation“ war Aichers HfG-Programm: „Wir müssen die Welt verändern durch ein Denken, das aus dem Entwerfen kommt.“ Warum die legendäre, nach dem Bauhaus bekannteste deutsche Design-Schule im Jahr 1968 schon wieder geschlossen wurde, ist bis heute umstritten: Finanzprobleme, interne Querelen oder Sabotage der konservativen Landesregierung? Aicher hatte die Lust daran bereits verloren, als die HfG unterging. Als „Gestaltungsbeauftragter“ der Olympischen Spiele 1972 verhalf er der jungen Bundesrepublik zu einem freundlichen Image – und wurde dabei zu einem Pionier des Corporate Designs.

Olympia in München war unter Aichers Regie ein farbenfrohes Gesamtkunstwerk, eine lässig-verspielte „Umkehr von Berlin 1936“: keine Adler, kein Pathos, keine Gigantomanie – sondern „Waldi“, ein bunter Dackel als Maskottchen. Das Braun der Nazis, das Purpur der Kirche, aber auch Schwarz, Rot und Gold – die „Farben der Macht“ wurden von Aicher aus dem Olympiapark verbannt. Vielmehr sollten Hellgrün, Hellblau und Silber an einen Flug über Bayern erinnern. Bis heute geblieben sind vor allem kleine quadratische Bilder mit Kugelkopf-Strichmännchen: Damit sich Besucher aus aller Welt zurechtfinden, entwarf Aicher ein System von mehr als 700 Piktogrammen. Für den Frankfurter Flughafen gehörte dazu auch ein Symbol für „Sexshop“.

Die Münchner „Regenbogenspiele“ machten Aicher berühmt. Mit dem Honorar kaufte er eine alte Mühle bei Isny im Allgäu. In dem abgelegenen Weiler Rotis gründete er das „büro aicher“ und entwickelte die Schriften-Familie „Rotis“. Dass Metropolen mehr Kompetenz, mehr Kreativität und einen höheren Rang als Kleinstädte hätten, sei „durchaus nicht so“, fand der überzeugte Gegner von Zentralismus und Obrigkeit. In seiner „autonomen republik rotis“ lehnte er sogar Großbuchstaben ab, die seien zu „hierarchisch“.

Schüler und ehemalige Mitarbeiter erinnern sich an Widersprüche: Aicher gestaltete die Flughäfen München, Frankfurt und Berlin-Tegel, engagierte sich aber gegen Fluglärm. Er liebte schnelle Wagen, veröffentlichte aber bereits 1984 eine „kritik am auto“. Er gründete ein „institut für analoge studien“, arbeitete aber schon früh mit Computern. Er entwarf Plakate für die Friedensbewegung – und modernisierte das Erscheinungsbild von Regierungen und Konzernen. Seine Werke signierte er nie, aber die „bürogemeinschaft rotis“ überlebte ihn nicht. Otl Aicher starb am 1. September 1991, nach einem Unfall seines Aufsitzrasenmähers mit einem Motorrad.

„mit der zeit wird alles ranzig“, meinte Aicher. Viele seiner Werke sind jedoch überraschend zeitlos. Das Logo der Universität Konstanz zum Beispiel muss heute nur für Smartphone-Bildschirme aktualisiert werden, denn dafür sind die Linien zu fein. Besonders stolz auf ihr Corporate Design ist die Stadt Isny: Die 136 Bildzeichen in elegantem Schwarz-Weiß, die der Gestalter eigens dafür entworfen hat, sind diesen Sommer vergrößert in einem Pavillon im Kurpark, in der Stadtbücherei und verstreut über den ganzen Ort ausgestellt. Otl Aicher ist nicht zu übersehen.

Eine Briefmarke, Ausstellungen und Events: der Geburtstag von Otl Aicher wird das ganze Jahr über gefeiert. Das Internationale Design Zentrum Berlin würdigt den „Ausnahmedesigner“ mit einer Internet-Plattform: www.otlaicher.de

Münchner Fans ehren ihn mit einem „Grantler‘s Corner“: aicher100.de

Zum Jubiläum haben der Philosoph Wilhelm Vossenkuhl und der Architekturhistoriker Winfried Nerdinger das Buch Otl Aicher - Designer, Typograf, Denker herausgegeben (Prestel Verlag, München).

In Zürich: Otl Aichers Olympiade, bis 18.9.2022: museum-gestaltung.ch

In Berlin: Otl Aicher. Olympia 72, bis 30.10.2022: www.broehan-museum.de

In Isny: aichermagazin im Kurpark, bis 31.10.2022: www.isny.de/otlaicher/

In Ulm: Otl Aicher : 100 Jahre - 100 Plakate, bis 8.1.2023; Protest gestalten: Symbole, Gesten, Signale, vom 12.11.2022 bis 16.4.2023: museumulm.de

Martin Ebner
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