Im Gefolge der Corona-Krise werden die deutschen Heimatmuseen digitalisiert

Dreschflegel in der App

d'Lëtzebuerger Land vom 08.10.2021

Wenn die Welt unübersichtlich und unsicher wird, suchen die Germanen Trost und Halt im „Heimatmuseum“, einer deutschen Einrichtung, für die es anderswo nur vage Übersetzungen gibt. Als im 19. Jahrhundert die Industrialisierung hereinbrach, zogen Lehrer und andere Städter übers Land, um ausgemusterte Dreschflegel, Milchkannen und Trachten zu sammeln. Wenn es im Dorf kein brauchbares Brauchtum gab, wurden Traditionen kurzerhand erfunden – etwa Kuckucksuhren. Als nach 1945 die Deutschen aus Osteuropa vertrieben wurden, richteten sie an ihren Zufluchtsorten „Heimatstuben“ ein mit Reliquien aus den verlorenen Herkunftsregionen. Als in den 1970er Jahren der Glanz der Modernisierung verblasste, entdeckten alternative „Geschichtswerkstätten“ die Alltagsgeschichte – Heimatmuseen in grün.

Heute machen Globalisierung und Migration Angst. Mit Slogans wie „Unser Land, unsere Heimat“ zog 2017 die rechte AfD ins deutsche Parlament ein. Prompt fürchteten die etablierten Parteien, sie könnten heimatlos werden. Die Bundesländer Bayern und Nordrhein-Westfalen gründeten eigens Ministerien „für Heimat“. Als Innenminister Horst Seehofer bei einer Pressekonferenz die Umbenennung seines Hauses in „Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat“ bekannt gab, verplapperte er sich und rühmte sein „Heimatmuseum“.

Folgerichtig wird auch jetzt bei der Bewältigung der Corona-Pandemie an heimelige Lokalmuseen gedacht. Die Bundesregierung legte im vergangenen Jahr mit zunächst 2,5 Millionen Euro ein „Soforthilfeprogramm Heimatmuseen“ auf, das vorerst bis 2022 läuft und vom Deutschen Verband für Archäologie in Kooperation mit dem Deutschen Museumsbund verwaltet wird: In „ländlichen Räumen mit bis zu 20 000 Einwohnern“, beziehungsweise in Stadtteilen mit „ländlichem Charakter“ können Heimatmuseen, Heimatstuben, Freilichtmuseen, archäologische Parks und Träger von Bodendenkmalstätten für „Modernisierungsmaßnahmen und programmbegleitende Investitionen“ Zuschüsse von jeweils bis zu 25 000 Euro beantragen.

Für dieses Jahr wurde das Budget für Heimatmuseen auf drei Millionen Euro erhöht. Außerdem wurde ein eigenes „Soforthilfeprogramm Landwirtschaftliche Museen“ gestartet: Das Bundeslandwirtschaftsministerium stellt vier Millionen Euro für Museen bereit, die sich in „ländlichen Räumen mit bis zu 30 000 Einwohnern“ den Themen Landwirtschaft, Lebensmittelproduktion, Ernährung, Gartenbau, Weinbau oder Fischerei widmen. Diese Museen können jeweils bis zu 50 000 Euro beantragen. Wie bei den Heimatmuseen werden die Gelder vom Archäologen-Verband verwaltet, und die Museen müssen einen Eigenteil von mindestens 25 Prozent der Kosten aufbringen.

Im Vergleich zu den 2,5 Milliarden Euro, die das Bundesfinanzministerium in einem „Sonderfonds für Kulturveranstaltungen“ für die Ausfallabsicherung von Events bereitstellt, erscheint das Budget für die Lokalmuseen gering. Von den über 6 800 Museen in Deutschland ordnet die Statistik rund 3 000 der „Volks- und Heimatkunde“ zu – davon wird nur ungefähr jedes zehnte in den Genuss der Soforthilfeprogramme kommen. Andererseits ist es bemerkenswert, dass sich die Bundesregierung überhaupt um das höchst vielfältige Universum der Heimatmuseen kümmert. Überwiegend sind das winzige Einrichtungen mit weniger als 5 000 Besuchern pro Jahr, oft geleitet von störrischen Ehrenamtlichen. Und eigentlich darf sich die Bundesregierung dort gar nicht einmischen.

Unter anderem wegen schlechter Erfahrungen mit Nazi-Reichspropagandaminister Goebbels ist Deutschland föderal organisiert: Bildung, Medien und Kultur sind seit 1949 Kompetenzen der Bundesländer, wenn nicht der Städte und Gemeinden. Ebenso lange bemühen sich diverse Bundesregierungen, die Soft-Power-Instrumente wieder zu zentralisieren und mit Hilfe von Subventionen unter ihre Kontrolle zu bringen. Bis heute gibt es zwar kein gesamtdeutsches Kulturministerium, sondern nur eine „Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien“ (BKM), die CDU-Staatsministerin Monika Grütters. Die BKM, das Kulturministerium, das nicht so heißen darf, hat aber mittlerweile 390 Mitarbeiter und im laufenden Jahr ein Budget von 2,14 Milliarden Euro (fast ein Fünftel aller öffentlichen Kulturausgaben in Deutschland).

Was „Heimat“ genau sein soll, ist dabei immer noch so ungeklärt wie bei ihrer Erfindung im
19. Jahrhundert. Die deutschen Heimatministerien operationalisieren sie als „gesellschaftlichen Zusammenhalt“ und „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“. Konkret verstehen Politiker darunter den Ausbau von Autobahnen, Mobilfunk und Breitband. Wenig überraschend zielen die Soforthilfeprogramme für Regionalmuseen nicht nur auf Brandschutz, Barrierefreiheit und neue Beschriftungen, sondern insbesondere auf „mediale Ausstattung“, „digitale Sammlungsaufbereitung“ und die Einführung von WLAN.

Für die Digitalisierung von Museen sorgen auch andere Programme des Konjunkturpakets „Neustart Kultur“ der Bundesregierung: Zum Beispiel soll „dive in“ mit 31,3 Millonen Euro digitale Interaktion fördern, „Kultur.Gemeinschaften“ für elf Millionen digitale Content-Produktion und „museum4punkt0“ mit 30 Millionen Euro die Entwicklung von Apps, Games und Virtual-Reality-Anwendungen. Zu den „pandemiebedingten Investitionen“, die bei Heimatmuseen, privaten Museen und Ausstellungshäusern mit insgesamt 35 Millionen Euro gefördert werden, gehören ausdrücklich Computer, IT-Zubehör und Multimedia-Guides.

Vielleicht ist die neue Liebe zu bislang eher knapp gehaltenen Museen auch nur ein Vorwand für andere Agenden? Das Projekt „KI-basierte Gesichtserkennung und Masken-Screening“ zum Beispiel könnte nicht nur für Fasnachtsmuseen, sondern auch für Polizisten interessant sein. Neue Tools für die Auswertung von Zeitzeugen-Interviews, die am Haus der Geschichte in Bonn ausprobiert werden, könnten auch Geheimdiensten nutzen. Derart finstere Überlegungen liegen deutschen Politikern natürlich völlig fern. „Wir wollen unser kulturelles Erbe erhalten“, beteuert die Staatsministerin Grütters: „Heimatmuseen stiften Identität und stärken den gesellschaftlichen Zusammenhalt.“

Verkabelungshilfe für deutsche Heimatmuseen: dva-soforthilfeprogramm.de

Prototypen für die digitalen Museen der Zukunft: museum4punkt0.de

In ihrer Dissertation Heimatfabrik Lokalmuseum vergleicht die Historikerin Marie-Paule Jungblut nicht nur Heimatmuseen in Luxemburg und Wallonien, sondern auch die Begriffsgeschichte von „Heimat“ im deutschen Sprachraum gegenüber „pays/terroir“ in Frankreich: melusinapress.lu

Martin Ebner
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