Anonymität

Leichte Krawallerie

d'Lëtzebuerger Land vom 01.06.2012

Heute loben wir die Vorzüge der Anonymität. Wer sich anonym im Netz tummelt, ist fein raus. Er kann völlig gefahrlos hauen und stechen, spucken und drangsalieren. Nie kann er zur Verantwortung gezogen werden. Verantwortung ist übrigens ein überholter Begriff. Irgendwie humanistischer Schrott. Viel schöner ist der verantwortungsfreie shitstorm. Also die anonym herumfliegende Scheiße. Da sind die Chancen groß, dass man wirklich flächendeckend bekleckern kann. Es bleibt immer etwas hängen, und je weniger man weiß, woher das Geschoss stammt, umso schmerzvoller ist der Impakt. Der anonym Bedrängte kann nur mehr dreinschauen wie ein Mondkalb. Er könnte wahllos um sich schlagen, um sich zu verteidigen. Aber dann trifft er vermutlich immer die falschen Anonymen. Anonymität ist Klasse. Die Anonymen sind gesichtslose Helden. Es braucht Überwindung, um sich selber unkenntlich zu machen. Echt heroisch.

Wer hingegen mit vollem Namen unterzeichnet, also seine eigene Person ins Spiel bringt, ist furchtbar blöd. Er macht sich angreifbar und handelt sich Retourkutschen ein. Mit seiner eigenen Biografie bürgt er für die Ansichten, die er öffentlich vertritt. Jeder kann überprüfen, ob diese reale Person den Ansprüchen standhält, die sie formuliert. Das ist vollendet naiv und von hochgradiger Leichtfertigkeit. Politiker zum Beispiel sind Menschen, die sich von Amts wegen gar nicht maskieren können. Sie müssen ständig die eigene Haut zu Markte tragen. In der Auseinandersetzung mit einem riesigen Schwarm von Anonymen ziehen sie immer den Kürzeren. Wir brauchen daher eine neue Art von Politikern, und zwar anonyme. Im Parlament sollten nur mehr Statisten mit Guy-Fawkes-Masken sitzen. Anonymisierte Volksvertreter dürfen nämlich endlich auch ungehemmt die Sau rauslassen. Und zum Beispiel ungeschminkt sagen, was sie von ihren anonymen Wählern halten. Wahrscheinlich werden dann verschiedene Netz-Kombattanten vor lauter Erbostheit ihre Anonymität aufgeben und rufen: Das lass ich mir jetzt aber nicht gefallen! Das sag ich jetzt aber laut und deutlich, mit Namen und Adresse!

Der Konsumkonzern RTL hat sich neulich etwas Rührendes einfallen lassen. Die kommentierenden Foren-Teilnehmer, die den Anstand haben, ihre Ansichten mit echtem Namen zu kennzeichnen, werden nun farblich hervorgehoben. Ihr Name ist hellblau unterlegt und sticht aus der Masse der anonymen Diskutanten sofort hervor. Wahrscheinlich will RTL damit signalisieren: Hier sind mutige Leute am Werk, die nicht feige in die Anonymität flüchten. Aber die Wirkung dieser freundlichen Maßnahme zielt ins Leere. Denn diese spärlichen Anständigen stehen jetzt förmlich am Pranger, mitten in einem Heer von anonymen Heckenschützen. Über soviel Gutmenschentum können die Anonymen nur hämisch lachen. Wer will schon so bekloppt sein, Kritik durchschaubar zu machen? Wer bei wachem Verstand auf die Anonymität verzichtet, schadet sich nur selbst. Er lässt sich nämlich automatisch darauf ein, seine eigene Meinung zu relativieren. Sowas wird einem Anonymen nie passieren. Seine anonyme Meinung ist immer absolut und unanfechtbar. Weil sie sich nicht lokalisieren lässt, hat sie den zerstörerischen Effekt einer Drohne. Sie schlägt ein aus heiterem Himmel. Sie verhindert von vornherein jeden Abwehrreflex. Also das, was wir mit einem sehr altmodischen Wort als Demokratie bezeichnen.

Die Anonymen haben in jedem Fall die Nase vorn. Oft schmücken sie sich mit gefährlich und bedrohlich klingenden Phantasienamen. Sie möchten ganz gezielt mit Raubtieren, Vernichtungswaffen und Krankheitserregern identifiziert werden. Man soll sie fürchten und schon zittern, wenn man nur ihre Code-Wörter liest. Das lässt zwar den Verdacht aufkommen, dass sie in ihrem wirklichen Leben vielleicht nur arme Würstchen sind. Aber dieses Handicap nimmt der Anonyme gern in Kauf. Denn wenn er sich anonym aufplustert und sich mit vollem Einsatz zum Popanz aufschwingt, erscheint er plötzlich als gewaltig und unbesiegbar. Das ist ein herrliches Gefühl. Dem namentlich Diskutierenden ist soviel Satisfaktion nie vergönnt. Er scheitert schon gleich an den Grenzen seiner eigenen Identität.

Jetzt wollen wir schnell noch hinweisen auf eine grobe Ungerechtigkeit gegenüber den Anonymen. Es heißt, kein kritikwürdiger Politiker müsse sich auch nur im geringsten Sorgen machen wegen der anonymen Meinungsspringflut im Netz. Denn die Ansichten, die Anonyme vertreten, lassen sich an nichts festmachen. Sie schweben frei im Raum, drehen im Kreis und verpuffen bald wieder. Niemand muss sie ernsthaft zur Kenntnis nehmen. Sie sind der Fata Morgana verwandt, der trügerischen Vorspiegelung. Wer also anonym angemacht wird, muss sich der Kritik gar nicht stellen, weil er kein Gegenüber hat. Die Politik und die Wirtschaft haben demnach leichtes Spiel mit den Anonymen. Wer will die Kritisierten zur Rechenschaft ziehen, wenn sie anonyme Meinungen schlicht ignorieren? Darf man denn so kaltschnäuzig mit den Anonymen umspringen? Haben sie nicht ein bisschen anonyme Zuneigung verdient?

Guy Rewenig
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