Heute loben wir die Befreiung von sozialen Zwängen. Es rumort im Staatsbad Mondorf. Der Verwaltungsrat ist wahrlich nicht zu beneiden. Er musste nicht nur eine katastrophale Jahresbilanz vorlegen, eine bittere Chronik der Verluste. Schwerer noch wiegt eine sogenannte kulturelle Panne, ein gesundheitspolitischer Crash von bedenklichem Ausmaß. Eine bestimmte Anzahl von belgischen Kunden will nicht mehr ins Staatsbad anreisen. Das ist ein herber Schlag für die Staatsbadskasse. Wenn wir in Rechnung stellen, wie sehr sich der Verwaltungsrat über diesen Absturz erregte, muss es sich um eine echte belgische Völkerwanderung handeln, einen Massenexodus sozusagen.
Leider sind wir an dieser Stelle gezwungen, eine alte Warnung aufzufrischen: was nun folgt, hat mit satirischer Verfremdung nicht das geringste zu tun. Es geht nur um nackte Fakten. Die Belgier lehnen die Dienste des Staatsbads ab, weil sich am Rande des Schwimmbeckens manchmal Nackte ausbreiten, ja sich sogar völlig unverhüllt im Pool verlustieren. Nun verkündet der Verwaltungsrat, es müssten unbedingt Strategien entwickelt werden, um die beleidigten Belgier zurückzugewinnen. Soweit zu den Hinter(n)gründen der blamablen Affäre.
Wir sind kurz vor unserem Nationalfeiertag patriotisch genug aufgelegt, um dem Verwaltungsrat mit ein paar zündenden Argumenten helfend zur Seite zu springen. Was wären wir Luxemburger ohne die Belgier? Gäbe es kein Belgien, hätten wir einen Meeresstrand. Das wäre in Zeiten der zunehmenden Ozeanverschmutzung eine bedrückende Hypothek. Die Belgier sind also gleich schon mal unsere Pufferzone, die alle Schrecken des Meeres von uns abwendet. Allein dies ist Grund genug, die Belgier unbedingt ins Staatsbad Mondorf zurückzulocken. Und zwar stante pede. Denn wer weiß, wie lange es die Belgier überhaupt noch gibt?
Nun sind wir ein bisschen verwirrt, weil wir über kein Profil der boykottierenden Belgier verfügen. Auch über die nackten Provokateure am Pool ist nichts Näheres zu erfahren. Gewusst ist nur, dass sich hier vor unseren Augen eine gewaltige Kulturkollision abspielt. Der Nackte sabotiert die Bekleidungsindustrie. Das ist fahrlässig und hochgradig verantwortungslos. Nach dem Zusammenbruch der Banken und zahlreicher weiterer Wirtschaftszweige können wir uns den Exitus einer florierenden Branche gar nicht mehr leisten. Im Gegenteil, wir sollten gemeinsam alles unternehmen, um die Bekleidungsindustrie bei Laune zu halten. Hier ist der Verwaltungsrat gefordert, er sollte sich zu mutigen Schritten entscheiden.
Wer sagt denn, Badende müssten sich zwangsläufig im minimalistischen Outfit präsentieren? Wenn das Mondorfer Staatsbad seinen Event-Charakter stärken will, sollte es unbedingt auf eine blendende Novität setzen: den voll kostümierten Badespaß. In anderen Worten: die Badenden treten nur mehr in kompletten Garderoben auf. Der individuellen Gestaltungsfreiheit sind dabei keine Grenzen gesetzt. Nichts spricht dagegen, dass kreative Badende drei, vier, sechs, zehn Kleidungsstücke übereinander tragen. Je größer die Kleidermasse, umso kleiner das Risiko, im Pool abzusaufen. Die Badenden schweben buchstäblich in ihrem Kleidercocon, das Wasser kann ihnen nichts mehr anhaben. Und nicht zu vergessen: das Staatsbad Mondorf wird binnen kürzester Zeit weltberühmt wegen seiner extrem kleiderbetonten Therapiekapazitäten. Die Mitglieder des betrübten Verwaltungsrats sollten gleich mal mit dem guten Beispiel vorangehen. Es gibt keinerlei Vorschrift, dass zum Beispiel Herr Hammelmann, der Verkehrsexperte im Badekonsortium, bei Pressekonferenzen immer so locker im legeren Sommerlook umherwandelt. Was könnte ihn davon abhalten, sich mal ein paar zusätzliche Pelzmäntel überzustülpen? Eine solche Maßnahme bewirkt nämlich zweierlei. Sie signalisiert, dass Mondorf die Spielwiese der Reichen und Schönen ist, also auch die Luxusklasse der Bekleidungsindustrie unterstützt, und sie zeigt, dass Mondorf resolut mit den Nackten aufräumen will.
Denn die Nackten sind unverschämt auf dem Vormarsch. Erst Anfang dieser Woche musste das Tageblatt unter der Überschrift „Frei von so-zialen Zwängen“ die neueste Horrormeldung verbreiten: „Wie die Polizei berichtete, spazierte am frühen Samstagabend eine Frau splitternackt über den Boulevard Roosevelt.“ Und weiter: „Gegen die Frau habe ein Einreiseverbot aus dem Jahre 2008 vorgelegen.“ Dieser geniale Polizeibericht empfiehlt doch klar und deutlich zwischen den Zeilen, was auch das Staatsbad Mondorf gegen die aufziehende Pest unternehmen kann: Einreiseverbot für alle Nackten! Ganz Luxemburg ein einziger Sperrbereich für exzessiv körpervernarrte Gesundheitsfanatiker! Jetzt können wir nur hoffen, dass es sich bei der nackten Frau mit dem Einreiseverbot nicht um eine Belgierin handelte.