Obwohl die EU-Agrarexporte steigen, machen das russisches Embargo und die chinesische Wirtschaftsflaute den Milch- und Schweinebauern zu schaffen

Schon wieder Milchkrise

d'Lëtzebuerger Land vom 11.09.2015

Sechs Jahre sind seit der letzten große Milchkrise vergangen. Nun protestierten aufgebrachte Landwirte wieder mit Traktoren in Luxemburg-Stadt, in Brüssel und in Paris. Hatten sie 2008 noch zisternenweise Milch auf Felder und Wiesen geschüttet und ein Schwimmbecken auf der Place Clairefontaine mit Milch gefüllt, begnügten sie sich diesmal damit, eine Badewanne voll laufen zu lassen. Im September 2009 erreichten die Milchpreise an den Luxemburger Molkereien Tiefststände von zwischen 20,5 und 22,9 Cent das Kilo.

So tief sind die Preise derzeit nicht, obwohl im April das europäische Milchquotensystem aufgehoben wurde. Den Daten des Service de l’économie rurale (SER) zufolge zahlten die Luxemburger Molkereien ihren Produzenten im Juli im Schnitt 28,02 Cent das Kilo. Im Vergleich zu 2009 erscheint die Lage nicht ganz so dramatisch. Aber vor einem Jahr erhielten die Bauern für das Kilo Milch noch neun Cent mehr und die Einkommenslage ist ohnehin prekär. Seit fast zehn Jahren ist die Nettomarge der Betriebe ohne Subventionen negativ, wie aus dem Aktivitätsbericht des Landwirtschaftsministeriums hervorgeht. Das war in den Jahren vor 2005 noch anders.

Laut Marktbericht des Milchmarkt-Observatoriums der Europäischen Kommission, das im Zuge der Krise 2009 gegründet wurde, um mehr Markttransparenz zu schaffen, lag der Milchpreis in der EU im Juni im Schnitt bei 30 Cent das Kilo, ein wenig höher als in Luxemburg, aber 20 Prozent niedriger als ein Jahr zuvor und 13 Prozent niedriger als im Schnitt der vergangenen fünf Jahre.

Die Schuld für die aktuelle Situation schieben sich Bauern, Politiker und Interessenverbände gern gegenseitig zu. Die Bauern machen die Politik verantwortlich, weil sie mit ihrer Haltung gegenüber Russland in der Ukraine-Krise Moskau dazu veranlasst haben, ein Embargo auf europäische Erzeugnisse zu verhängen. Oder weil sie überhaupt die Mengenregelung abgeschafft haben. Die Politiker verweisen auf die Russen. Die Anhänger der Bio-Landwirtschaft denunzieren die liberale und auf Mengenproduktion ausgerichtete Europäische Agrarpolitik und werfen der konventionellen Landwirtschaft vor, ihr auf den Leim gegangen zu sein.

Dabei sind die Ursachen für das derzeitige Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage auf dem weltweiten Milchmarkt vielfältig. Tatsächlich haben die europäischen Landwirte im ersten Halbjahr 2015 nur 0,8 Prozent mehr Milch produziert als im Vorjahr. Doch der Produktionszuwachs 2014 war mit 4,5 Prozent enorm, die europäische Milchwirtschaft produzierte 148 Mil­lionen Tonnen Milch.

Das allein erklärt den Preisverfall nicht. Zwar ist die EU in Sachen Milchproduktion ein Schwergewicht auf dem Weltmarkt. Aber sie exportiert von ihrer Produktion zwischen zehn und 12 Prozent, wie Josiane Willems, Generalsekretärin der Bauernzentrale, sagt. Nicht nur in der EU, sondern auch in anderen Weltregionen ist die Milchproduktion in den vergangenen 18 Monaten angestiegen. Die Produktion stieg 2014 in den USA um 2,4 Prozent, in Australien um 3,5 und in Neuseeland um 7,8 Prozent. Deshalb herrscht auf dem Weltmarkt insgesamt ein höheres Angebot.

Gleichzeitig verändert sich das Muster der Nachfrage. Anfang August zog die EU-Kommission Jahresbilanz der Auswirkungen des russischen Embargos. Der Clou: Auch wenn die Exporte nach Russland zwischen August 2014 und Mai 2015 um 42,7 Prozent auf 5,3 Milliarden Euro einbrachen, stiegen die Exporte in Drittstaaten im gleichen Zeitraum insgesamt um 4,5 Prozent auf 105,6 Milliarden Euro an. Dieses Gesamtbild reflektiert die Situation in den einzelnen Segmenten der landwirtschaftlichen Produktion nicht wirklich. Ein Drittel der Milchproduktexporte der EU gingen vor dem Embargo nach Russland, erklärt Pierre Treinen, Direktor des SER. Die Russen waren die Hauptabnehmer von Butter und Käse aus der EU, dabei fielen die Käse-Importe nach Russland laut EU-Marktbericht im ersten Halbjahr um 58 Prozent. Hinzu kommt, dass die Chinesischen Verbraucher weniger Milchprodukte zu sich nehmen, seit die Wirtschaft in der Volksrepublik weniger schnell wächst, die Vollmilchpulvereinfuhren fielen in den ersten sechs Monaten des Jahres um 56 Prozent.

Außer den Milchbauern leiden vor allem die Schweinezüchter unter dem russischen Embargo. 2013 produzierte die EU einen Überschuss von 1,2 Millionen Tonnen Schweinefleisch und Schweinefleischprodukten. Davon gingen 740 000 Tonnen nach Russland. 2014 schrumpften die Exporte nach Russland um 91 Prozent. Was da nach Russland exportiert wurde, waren längst nicht nur Schweinefleisch-Medaillons, sondern Innereienteile, die ansonsten nur noch in China in Suppen und anderen Gerichten weiterverarbeitet werden. „Dafür gibt es keinen Ersatzmarkt“, erklärt Pierre Treinen. Überhaupt ist die Situation für die Schweinebauern nicht ganz einfach. Denn wegen der Afrikanischen Schweinepest bei Wildschweinen unterliegt europäisches Schweinefleisch auch in anderen Ländern Einfuhrbeschränkungen. Weil auch die europäischen Schweinezüchter, angespornt von verhältnismäßig guten Absatzpreisen Anfang 2014, die Produktion erhöhten, sitzen auch sie nun auf ihrer überschüssigen Produktion fest. In Luxemburg fiel der Bruttopreis von Schlachtschweinen pro Kilo binnen eines Jahres von 1,62 auf 1,40 Euro, ein Preisabsturz von 12,35 Prozent. Dabei sind die Margen der Schweinezüchter ohnehin notorisch gering.

Dass auch die Luxemburger Bauern vergangene Woche auf die Straße gingen, zeigt, dass sich all jene geirrt haben, die letztes Jahr vorhersagten, dass russische Embargo werde kaum Folgen für die heimische Landwirtschaft haben, weil Luxemburg kaum landwirtschaftliche Produkte nach Russland exportiere. Doch weil die vom Embargo besonders hart getroffenen Länder im Baltikum versuchen, ihre Produktion anderswo abzusetzen, sind die Preise in der EU insgesamt gefallen und davon bleiben auch die Luxemburger Bauern nicht verschont. Sie haben außerdem mit der großen Trockenheit zu kämpfen. Weil der Regen ausblieb, wird es ihnen an Futter fehlen. Wenn sie Futter hinzukaufen müssen, um ihre Tiere über den Winter zu bringen, verbessert das die Liquiditätssituation nicht.

Um auf die Liquiditätskrise der Bauern zu reagieren, hat die EU-Kommission beim Sondergipfel mit den EU-Landwirtschaftsministern am Montag in Brüssel vorgeschlagen, die Zahlung der Betriebsprämien vorzuziehen. So könnten ab Mitte Oktober bereits 70 Prozent der Prämien ausbezahlt werden anstatt der üblichen 50 Prozent. Doch ob das so umsetzbar ist, bleibt abzuwarten. Denn die Zahlungen sind die ersten unter dem neuen Regime der gemeinsamen Agrarpolitik, es gelten neue Spielregeln und das macht die Kontrolle der Bedingungen, unter den die Zahlungen erfolgen dürfen, nicht unbedingt einfacher. Sie muss eigentlich im Vorfeld erfolgen. Das Reglement, nach denen die Direktzahlungen erfolgen, die sich im vergangenen Jahr in Luxemburg auf rund 33,5 Millionen Euro beliefen, wurde diese Woche im Memorial veröffentlicht. Es ist 150 Seiten lang.

Darüber hinaus will die Kommission 500 Millionen Euro zusätzliche Hilfen auszahlen. „Ein Tropfen auf den heißen Stein“, waren sich Josiane Willems von der Bauernzentrale, Marco Gaasch von der Landwirtschaftskammer und Fredy de Martines vom Luxembourg Dairy Board (LDB) in verschiedenen Interviews und Stellungnahmen einig. Denn noch ist nicht klar, wie das Geld verteilt wird, auf verschiedene Maßnahmen und auf die Mitgliedstaaten. Ob die vom Embargo besonders schwer getroffenen Mitgliedstaaten mehr Geld erhalten als die anderen, und wie viel Geld in verschiedene Maßnahmen fließt – die Kommission schlägt vor, die private Lagerung von Milchprodukten und Schweinefleisch länger und mit mehr Geld zu unterstützen, um das Angebot zu senken – soll erst in den kommenden Tagen geklärt werden.

Zum Vergleich: Als die Kommission den Milchbauern 2009 280 Millionen Euro zusätzliche Hilfen zugestand, entfielen, nach der damaligen Quote 600 000 Euro auf die Luxemburger Produzenten. Fredy de Martines rechnete im RTL-Interview vor, wie sich das aktuelle Paket auf die Produktion insgesamt auswirken werde. Ungefähr ein Viertelcent pro Kilo hätten die Bauern zu erwarten. Bei Einbußen von neun Cent pro Kilo seiner Ansicht nach nicht genug.

Auf die Forderung verschiedener Mitgliedstaaten, den Interventionspreis von aktuell 22 Cent pro Kilo anzuheben, ab dem Milchprodukte aufgekauft werden, um die Preise zu stützen, ging die Kommission bisher nicht ein. Ohnehin gibt es auch eine Reihe von Mitgliedstaaten, die strikt dagegen sind. Ihre Argumente: Würde der Interventionspreis angehoben, würde die Preise auf diesem Niveau eingefroren. Außerdem bestehe für die Bauern dann kein Anlass mehr, ihre Produktion der Nachfrage anzupassen, wenn sie davon ausgehen könnten, dass ihre Überproduktion ohnehin aufgekauft würde. Eine erneute Mengenregelung, wie sie verschiedene Bauernverbände verlangen, ist nach jahrelangen Anstrengungen, die Quoten abzuschaffen, eher eine unrealistische Option. Ohnehin sind auch nicht alle Bauernlobbys dafür. Wenn die EU eine Mengenregelung habe, andere Weltregionen aber nicht, werde das dazu führen, dass die Produktion innerhalb der Europäischen Union soweit sinke, dass sie zum Importmarkt werde, befürchtet Josiane Willems.

So fordern die Vertreter der Luxemburger Landwirte von Landwirtschaftsminister Fernand Etgen (DP) Hilfen, die über die Maßnahmen der EU-Kommission hinausgehen. 2009 hatte die Regierung beschlossen, den Bauern die Sozialabgaben zurückzuerstatten – eine Hilfsmaßnahme im Wert von 1,3 Millionen Euro –, die Kosten von 350 000 Euro für die Milchkontrollen erstattet und die Mehrwertsteuer auf den landwirtschaftlichen Erzeugnissen von neun auf zehn Prozent angehoben, um den Cashflow der Bauern zu verbessern. Am 21. September will Etgen erneut mit den Bauern zusammenkommen, um über weitere Maßnahmen zu beraten – er muss abwarten, welche Hilfsmaßnahmen die EU-Kommission den Mitgliedstaaten erlaubt, um konkrete Aussagen machen zu können. Die Mehrwertsteuer auf den landwirtschaftlichen Erzeugnissen allerdings, wurde bereits vergangenen April von zehn auf zwölf Prozent erhöht.

Was genau die Bauern vom Minister fordern, will Josiane Willems von der Bauernzentrale nicht sagen. Doch dass Etgen beim Treffen vergangene Woche angab, der Regierungsrat habe am 21. Juli zugesagt, den Bauern weitere Mittel aus dem Haushalt zur Verfügung zu stellen, hat sie notiert.

Michèle Sinner
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