Luxemburgensia

Zwei Kilometer in 700 Jahren

d'Lëtzebuerger Land vom 25.11.1999

Ein Kind spielt zwischen den abgestellten Autos mit den ersten Schneeflocken. Die Tür zu einem der noch unrestaurierten ehemaligen Ställe steht offen. Andere Gebäude von Schloss Ansemburg erstrahlen wie neu in der Herbstsonne. Vom skulpturierten Steintor führt der lange Innenhof zum kunstvollen Schlossgarten, der in Terrassen bis zur Eisch hinuntersteigt. Eine dreisprachige Tafel erinnert daran, dass die Europäische Kommission den Erhalt des Gartens 1993 als "Pilotprojekt" mit 2,4 Millionen Franken bezuschusste.

Seit einigen Jahren sind das Schloss und die Burg wieder geheimnisumwittert. Denn 1987 verkaufte der Graf das Schloss an die japanische Sekte Sukyo Mahikari, die es zu ihrem regionalen Hauptquartier für Europa und Afrika machte. In einem Bericht des belgischen Parlaments wird die Sekte "une des organisations sectaires les plus dangereuses dans notre pays" genannt.

Doch hinter den Mauern des Schlosses und der Burg verbergen sich noch andere Geheimnisse. "Die Bibliothek sei voller Geheimnisse und insbesondere voller Bücher, die noch keiner der Mönche hier je habe lesen dürfen", heißt es bei Umberto Eco. Eines der Geheimnisse wurde vor drei Wochen gelüftet, als der Sprachwissenschaftler Guy Berg auf Burg Ansemburg nicht das zweite Buch der Poetik des Aristoteles, sondern die für verloren geglaubte, 700 Jahre alte Pergamenthandschrift des Yolanda-Epos wiederfand. Es ist das älteste bekannte literarische Sprachzeugnis der Luxemburger Gegend, weil es nicht auf Latein, sondern auf Moselfränkisch geschrieben wurde. Nikolaus Welter hatte das Gedicht mit patriotischem Stolz in seiner Mundartlichen und hochdeutschen Dichtung in Luxemburg 1929 "als das erste literarische Denkmal des Luxemburgischen angesehen"; den Autor Bruder Hermann nannte er "den ersten, wenigstens dem Ruf- oder Ordensnamen nach bekannten Luxemburger Dichter".

Bruder Hermanns tränenreiche Soap opera über einen Familienstreit auf Burg Vianden erzählt von seiner Zeitgenossin Yolanda (1231-1283), einer junge Adeligen, die erfolgreich gegen die Zwänge ihrer Familie und der höfischen Gesellschaft kämpfte, um ein selbstbestimmtes Leben in der gottesfürchtigen und den Reichtum verachtenden Frauengemeinschaft des Marienthaler Dominikanerinnenklosters zu führen.

Obwohl die fast zwei Jahrhunderte vor Gutenberg entstandene und später Codex Mariendalensis getaufte Handschrift verschollen war, ist das Gedicht mit seinen 5 964 Versen seit längerem bekannt. Denn 1655 fertigte der Direktor des Jesuitenkollegs Alexander von Wiltheim, der "Vater der Luxemburger Archäologie", eine Abschrift an. Der Germanist John Meier veröffentlichte 1889 den vollständigen Text in einer Fachzeitschrift, seither ist auch Wiltheims in Prag verwahrte Abschrift verschollen.

Weil Meier aber die Schreibweise des Textes so "korrigierte", wie deutsche Germanisten im letzten Jahrhundert glaubten, dass Mittelhochdeutsch zu schreiben sei, war bis heute nur eine Textversion bekannt, in der gerade die Spuren der moselfränkischen Eigenarten des Gedichtes verwischt schienen. Noch vor einem Monat schrieb deshalb die Trierer Germanistin Andrea Rapp über den Codex Mariendalensis und Wiltheims Abschrift: "Eine Wiederentdeckung auch nur einer der beiden Codices käme einer wissenschaftlichen Sensation gleich."

Doch wo war die mittelalterliche Handschrift, die Wiltheim 1655 in den Händen hatte, geblieben? Noch im 17. Jahrhundert listeten die Dominikaner Quétif und Echard den Codex als eine der Handschriften auf, die im Kloster Marienthal aufbewahrt wurden.

Etwa zu der Zeit erlebte, keine zwei Kilometer flussaufwärts von Marienthal, die mittelalterliche Herrschaft Ansemburg durch die Gründung einer Eisenhütte einen neuen Aufschwung. Mit dem neuen Reichtum ließ der in den Grafenstand erhobene Lambert Joseph von Marchant und von Ansemburg (1705-1768) nicht nur das neue Schloss bauen, sondern sammelte auch Münzen und Bücher. Der Katalog seiner Bibliothek soll laut Karl Arendts Porträt-Galerie 18 Folio-Bände dick und in "unserer Stadtbibliothek" verwahrt sein. Möglicherweise gelangte der Codex unter Altertumsfreund Graf Lambert Josef nach Ansemburg. Doch die gräflichen Schmelzherren gingen in Konkurs, ihre Bibliothek wurde am 4. Juli 1763 öffentlich versteigert. Nachher konnte die Familie einige Bände zurückkaufen - auch den Codex?

Zwei Jahrhunderte wurde nichts mehr von der Handschrift gehört. Dann berichtete der Sekundarlehrer Albert Steffen 1932 in einer Fußnote in Ons Hémecht "von Luxemburgs Geschäftsträger in Brüssel, Herrn Grafen Gaston d'Ansembourg", der ihm den Codex "zur Verfügung stellte". Und er veröffentlichte das bräunliche, grob gerasterte Foto von Blatt 78a der Handschrift mit den Versen 3218-3238 über den Auftritt des großen Theologen Albertus Magnus. Doch statt einer versprochenen kritischen Veröffentlichung über die Handschrift, wurde es wieder still um sie. Böse Zungen fragten schon, ob Steffen nicht vergessen hatte, die Handschrift zurückzugeben.

Während des Zweiten Weltkriegs wurde das Schloss geplündert. Ein Teil der Bibliothek konnte jedoch ausgelagert und in Sicherheit gebracht werden. Im Vorwort zu seiner 1979 veröffentlichten Übersetzung des Yolanda-Epos schrieb der ehemalige Kulturminister Pierre Grégoire: "Die sogenannte Wiltheim'sche Vorlage verlor sich, anscheinend spurlos, in den Wirren des Zweiten Weltkrieges."

Doch der wertvolle Codex war keine deutsche "Beutekunst" geworden. Der Graf von Ansemburg erinnert sich noch heute: "In den 50er Jahren zeigte mir mein Vater den Band, damals hatte ich zwölf Jahre. Ich kann mich noch erinnern, aber dann verlor ich die Handschrift wieder aus den Augen." "Nachforschungen," so Grégoire, "die wir 1968 in Ansemburg direkt und, über einen Kazettfreund, Historiker in Prag, in der Tschechei anstellen ließen, verliefen ergebnislos. (...) Der wissenschaftlich-literarische Verlust für Luxemburg scheint unwiderruflich zu sein."

Der Graf von Ansemburg bestreitet jedoch energisch Gerüchte, dass die Handschrift jahrzehntelang der Wissenschaft vorenthalten worden wäre. Das Haus Ansemburg sei, im Gegenteil, schon immer für Historiker offen gewesen. Bester Beweis dafür sei, dass 1963 die Schlossarchive dem Staatsarchiv übergeben worden seien, um sie der Wissenschaft zugänglich zu machen.

Vielleicht war der Graf sogar zu großzügig. Denn in all den Jahren gingen ungezählte Leute in der Bibliothek ein und aus. So verschwand sicher auch das eine oder andere Buch. Der Codex hätte auch dabei gewesen sein können.

Das Problem der Schlossbibliothek sei, so der Graf, dass sie vor dem Krieg katalogisiert gewesen, aber während des Kriegs mehrfach umgelagert worden sei. "Seither hatte weder mein Vater noch ich die Möglichkeit, die Katalogisierung vorzunehmen." In anderen Worten: der Codex war nicht gestohlen, nicht einmal versteckt, sondern bloß verlegt. Und damit ist seine Geschichte auch ein erbärmliches Stück Luxemburger Wissenschaftsgeschichte, das ein wenig an das Schicksal des inzwischen wieder verschwundenen Manuskripts eines anderen Epos, des Renert erinnert.

Der 38-jährige Linguist Guy Berg erzählt begeistert von der Liebenswürdigkeit und Hilfsbereitschaft des Grafen. Berg betreut am Institut Grand-Ducal, section de linguistique, d'ethnologie et d'onomastique ein Forschungsprojekt über mittelalterliche Sprache und Kultur in Luxemburg und insbesondere das Yolanda-Epos. Der Graf erlaubte ihm, das gesamte im Staatsarchiv verwahrte Schlossarchiv und seine Bibliothek zu sichten. "Zuerst arbeitete ich mich wochenlang durch das Archiv, ohne eine Spur des Codex zu finden. Dann durfte ich zusammen mit einer Assistentin und zwei Arbeitern des Grafen die Bibliothek in der Burg durchsuchen. Der Graf leistete uns jede erdenkliche Unterstützung. Eine Woche lang hatte ich jedes einzelne der mehreren tausend Bücher in der Hand." Bis er am 6. November eine 15 Zentimeter hohe, in einer doppelten, aus den Nähten platzenden Lederhaut gebundene Handschrift von 76 Pergamentbögen oder 264 Seiten in der Hand hatte: den mittelalterlichen Codex.

Die Handschrift, die derzeit in einem Panzerschrank der Banque de Luxembourg am Boulevard Royal lagert, ist sehr gut erhalten. Nur die beiden ersten Blätter sind eingerissen, dem letzten Blatt fehlt eine obere Ecke, so daß vier beziehungsweise acht Verse unvollständig sind.

Der Codex war also nie richtig verloren gewesen. Wahrscheinlich war er in 700 Jahren bloß die zwei Kilometer von Marienthal nach Ansemburg gewandert, hatte Kriege, Plünderungen und Konkurse überlebt.

"Ich war sehr zufrieden, als der Codex gefunden wurde", erzählt der Graf von Ansemburg. "Denn er hat auch eine große Bedeutung für die Gegend hier und für die Verbundenheit Ansemburgs mit dem Marienthal." Berg fragt sich inzwischen, ob der Codex nicht Bruder Hermanns um 1290 entstandenes Original ist und nicht, wie Wiltheim behauptete, eine ein halbes Jahrhundert später gefertigte Abschrift.

Der Graf von Ansemburg ist bereit, das Pergament und die Schlossbibliothek der Wissenschaft zur Verfügung zu stellen. Aber es sei "nicht realistisch, den Codex für Forschungs- oder Ausstellungszwecke auszuleihen. Ideal wäre, ein Forschungszentrum zu gründen, wo der Codex und die restliche Bibliothek den Wissenschaftlern zugänglich gemacht und eventuell auch ausgestellt würden." Dafür müssten aber staatliche Mittel aufgebracht werden.

Die Einzelheiten, so Kulturministerin Erna Hennicot-Schoepges letzte Woche, sollen in einem Abkommen geregelt werden, welches der Staat mit dem Grafen aushandelt. Die Ministerin scheint zu diesem Schritt bereit, weil sie einen jahrelangen Streit wie um das Mosaik von Vichten verhindern will. Sie muss aber auch sicherstellen, dass die Millionen teuere Handschrift nach dem Tod des Grafen dem Land erhalten bleibt. Dass das Germanische Nationalmuseum unter ganz anderen Bedingungen 1955 den Codex aureus Epternacensis für DM 1,1 Millionen kaufte, wird noch heute als nationale Schmach empfunden.

Denn der Graf wehrt sich energisch dagegen, dass der Codex als nationales Kulturgut klassiert wird: "Es ist nicht möglich, ihn zu klassieren, weil ich nicht der Eigentümer bin, sondern sieben Generationen meiner Familie. Es ist unmöglich, alle Erben aufzusuchen, um ihr Einverständnis einzuholen. Weshalb sollte der Codex auch ins Ausland geraten? Es ist ein nationales Dokument." Guy Berg, der heute während eines Kolloquiums seinen Fund stolz vorstellen kann, hofft, in eineinhalb bis zwei Jahren eine kritische Edition des Textes veröffentlichen zu können, die auch der nationalgeschichtlichen Bedeutung der Handschrift für Luxemburg gerecht werden soll. Vielleicht klappt es diesmal.

Wenige Wochen vor der Wiederentdeckung der mittelalterlichen Handschrift veröffentlichten die Sheffielder Professoren Gerald Newton und Franz Lösel unter dem Titel Yolanda von Vianden die bisher beste hochdeutsche Übersetzung des Gedichtes zusammen mit einer hastigen Einführung und der nunmehr überholten Textversion John Meiers in der Schriftenreihe des Institut Grand-Ducal, section de linguistique, d'ethnologie et d'onomastique. Luxembourg 1999, 186 S., 928 Fr., ISBN 2-919910-01-9.  Die Institutssektion organisierte am 26. und 27. November 1999 im Auditorium der Banque de Luxembourg ein Kolloquium über das Yolanda-Epos und seine Zeit, an dem Germanisten und Historiker aus Luxemburg, Trier, Liège und Sheffield teilnehmen.

Institut Grand-Ducal, section de linguistique, d'ethnologie et d'onomastique).

Romain Hilgert
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