Heute loben wir den unerschöpflichen Tatendrang der Gutmenschen. Der richtig gute Gutmensch stellt sich immer wieder Fragen, die uns nicht mal im Traum einfallen würden. Zum Beispiel diese: Warum stehen die Bäume splitternackt in der Landschaft? Leiden sie denn nicht unter dieser permanenten Blöße? Wieso werden sie von der Bekleidungsindustrie ständig übersehen? Sollten wir nicht davon ausgehen, dass kleiderlose Bäume auf Dauer depressiv werden und langsam verkrüppeln? Haben die Bäume etwa kein Recht auf Haute Couture? Oder wenigstens auf einigermaßen solide Klamotten?
Während wir uns noch wundern über die Pertinenz dieser kühnen Fragen, sind die Gutmenschen längst putzmunter am Werk. „Man sehe und staune!“, lesen wir in den offiziellen Mitteilungen der Gemeinde Schüttringen, „Zwölf Bäume auf dem Campus An der Dällt in Münsbach sind seit dem 23. Juni umstrickt, umhäkelt und mit Wolle bunt gestaltet.“ Das ist vor allem naturkundlich eine wichtige Nachricht. Den Bäumen allgemein fehlt es nämlich irgendwie an Gestaltungswillen. Sie sind hochgradig apathisch und treiben mit ihrer katastrophalen Reglosigkeit die Gutmenschen manchmal an den Rand der Verzweiflung. In Modedingen sind sie reine Muffel. Nun gut, die Bäume sind nicht eben vorteilhaft ausgestattet. Sie können nicht in Katalogen blättern, selbst den kürzesten Weg zum nächsten Kleidergeschäft können sie nicht zurücklegen. Wie schön, dass wenigstens die Gutmenschen sich um die Garderobe der Bäume kümmern!
Die Baumkleiderfabrikation unterliegt nicht etwa industriellen Maßstäben, nein, jedes einzelne Baumkleid wird individuell gefertigt, was in unseren wahnsinnig beschleunigten Zeiten der pure Luxus ist. Was erzählt uns dazu der Gemeindebote? „Die Idee stieß auf offene Ohren beim Verein Fraen a Mammen. Dessen Mitglieder widmeten sich während der langen Wintermonate dem besonderen Street Working und strickten die Verzierungen.“ Wir haben es hier mit einer humanitär hoch motivierten Strickbrigade zu tun. Diese Frauen und Mütter müssen nicht nur kleidermäßig die Existenz ihrer Partner und Kinder regeln, was besonders beim verwöhnten männlichen Nachwuchs eine wahre Schufterei sein dürfte, nein, sie wenden sich kleidermäßig auch der Pflanzenwelt zu und kämpfen energisch gegen das Kleidungs-Prekariat der Bäume. Vor soviel Idealismus können wir nur den Hut ziehen.
Denn jetzt haben es die Bäume gut. Sie glänzen vor Stolz in ihren buntfarbigen Kostümen, und wenn sie sprechen könnten, würden sie ganz sicher folgendes sagen: „Liebe Fraen a Mammen, uns fällt es wie Schuppen von den Augen, wir waren Jahrmillionen ausgeschlossen von den Segnungen der Kleiderbranche, aber jetzt ist dieser elende prä-zivilisatorische Zustand zu Ende, wir sind jetzt endlich kleidertragende Bäume, unser Glück können wir gar nicht beschreiben, nur eine kleine Frage hätten wir noch: Wo sind eigentlich die Knöpfe an unseren Wollkleidern? Wir möchten das Ding mal gelegentlich aufknöpfen bei dieser Affenhitze, ein bisschen kühlende Seide hätte es auch getan, aber ihr habt euch ja wintersüber lieber eingebunkert mit unzähligen Wollknäueln und keinen einzigen Gedanken verschwendet an eventuelle sommertaugliche Seidenkleider ...“
Ja, wir haben den frechen Baummonolog an dieser Stelle einfach ausgeblendet. So können die Bäume nicht mit ihren Wohltäterinnen verfahren. Gewiss, es bleibt noch viel zu tun auf dem weiten Feld der Baumbekleidung. Die Tracht der Münsbacher Bäume erinnert irgendwie noch zu sehr an simple Wollschläuche, die Stämme stecken einfach in knallfarbigen Hüllen, da muss tatsächlich noch am Detail gearbeitet werden. Vor allem die Äste recken sich immer noch splitternackt gegen Himmel, das zarte Laub kann diesen Makel kaum verbergen. Aber wir sind zuversichtlich. Im kommenden Winter werden sich die Fraen a Mammen dem Feinschliff hingeben, dann werden die Dekolletees ausgearbeitet, die Kragen und Manschetten, die Reißverschlüsse und Knopfleisten, vielleicht sogar die Krinolinen und Krawatten, die Bretellen und Boxerimmer.
Wichtig ist im Augenblick, dass die Bäume überhaupt ihrer provokanten Nacktheit entflohen sind und sich nun einreihen in die große Gemeinschaft der kleideraffinen Wesen. Noch wichtiger ist, dass die kostümierten Bäume von Münsbach auf einem Schulcampus stehen und demnach über eine beträchtliche pädagogische Ausstrahlung verfügen. So lernen die Kinder auf den ersten Blick, dass man nicht alle Phänomene als gottgegeben abhaken sollte. Nein, kreative Veränderung heißt das Ziel, und wenn die Bäume nicht von sich aus auf ein Minimum an modischer Kultur achten, muss man sie eben mittels Street Working zur Räson bringen.
Das ist übrigens ein lohnender Job. Bäume beißen nicht, sie lassen sich sagenhaft viel gefallen. Da tut sich ein völlig neuer Berufszweig auf. Noch mangelt es uns drastisch an Baumbekleidungsexperten. Aber bald kommen die entsprechenden Diplome auf den Arbeitsmarkt. Unter den Bäumen gibt es weltweit Milliarden Kleiderbedürftige. Da winkt ein kolossales Geschäft.
Guy Rewenig
Catégories: Made in Happyland
Édition: 26.07.2013