Heute loben wir den rücktrittsbereiten Premier. Er geht, weil es nicht mehr anders geht. Wenn ihm der Abschlussbericht des Srel-Untersuchungsausschusses um die Ohren fliegt, bleibt ihm nichts anderes übrig, als das Feld zu räumen. Er hat übrigens schon vorgebaut und selber sehr deutlich seinen Rücktritt angekündigt. In der ungemütlichen Parlamentssitzung mit den Misstrauensanträgen der Opposition orakelte der Premier: Wenn das Parlament der Ansicht ist, dass ich die Schuld trage am unsäglichen Srel-Debakel, werde ich zum gegebenen Zeitpunkt die politische Konsequenz ziehen.
Allerdings ist dies, wie immer beim Premier, eine Absichtserklärung mit Widerhaken, oder sagen wir: mit eingebauter Interpretationsdivergenz. Warum sagt der Premier nicht frank und frei: Ich bin der Geheimdienstchef, ich habe in dieser Rolle völlig versagt, also mache ich Platz für einen besseren Dienstherrn? Das wäre ein demokratisch elementarer Diskurs. Und ein Beweis von Anstand. Aber der Premier braucht Pathos und Tränendrüsendruck. Er muss seinen Glorienschein retten. Und er will unbedingt in die Geschichte eingehen als einer, den nie und nimmer irgendeine Schuld traf.
Für uns Durchschnittsbürger ist diese Besessenheit, immer und überall völlig frei von Schuld zu sein, schwer nachzuvollziehen. Jeder von uns kommt immer wieder in die Lage, wo es ganz banal eine Erleichterung ist, Fehler einzugestehen. Es ist wahrlich kein Kunststück, auch keine Heldentat, sondern eine Frage der sozialen Freundlichkeit, im Bedarfsfall klipp und klar zu sagen: Entschuldigung, das habe ich verbockt, es ist einzig und allein meine Schuld, das alles geht auf mein Konto, an der Schadensbereinigung werde ich mich nach Kräften beteiligen. Aber der Machtpolitiker versteht sich grundsätzlich nicht als fehleranfälliger Durchschnittsbürger. Seinem eigenen Empfinden nach scheint er in einer gehobenen, geradezu entrückten Sphäre zu verkehren, wo das Eingeständnis von Schuld einer persönlichen und beruflichen Katastrophe gleichkommt. Die Gewohnheit der Macht ist offenbar ein Rauschmittel. Es führt auf Dauer zu chronischen Halluzinationen. Mit der Zeit ist der Berauschte felsenfest davon überzeugt, in jeder Hinsicht unfehlbar zu sein. Er darf unter gar keinen Umständen zugeben, dass er Fehlern nicht immer ausweichen kann, wie jeder Durchschnittsbürger.
Der Premier versucht jetzt genau diese untaugliche Gratwanderung. Er beginnt, vor dem versammelten Parlament laut zu philosophieren. Wenn einer die Verantwortung trägt, räsoniert er, heißt das noch lange nicht, dass er auch Schuld auf sich lädt. Verantwortung und Schuld klaffen also weit auseinander, wenn wir recht verstehen. Diese merkwürdige Aufspaltung erinnert stark an verschüttetes Unrechtsbewusstsein. Und diese gezielte Unterscheidung ist, mit Verlaub, auch ein Angriff auf das freie Denken der Parlamentarier. Indem der Premier die Schuld von sich weist und gleichzeitig die Verantwortung auf sich nimmt, fällt er den Abgeordneten buchstäblich vorbeugend in den Rücken. Das Parlament erscheint nun schon im voraus als ein Gremium von undankbaren Wüterichen, das bedenkenlos ein Unschuldslamm abschlachtet. Denn der Premier ist umso unschuldiger, als er ja seine Verantwortung nicht leugnet. Unverantwortlich ist am Ende nur das Abgeordnetenhaus, das einen verantwortungsbewussten Premier in die Wüste schickt. Natürlich wird die CSV-Fraktion sich an diesem Schuldzuweisungsritual nicht beteiligen und den Premier in Schutz nehmen. Die CSV ist ja insgesamt eine sehr verantwortliche Partei.
Warum kann der Premier nicht zugeben: Dieser Srel ist ein echter Sauladen, eine virulente Schadstoffzelle mitten im demokratischen Staat, ein finsterer Bunker voller Hochstapler, Heckenschützen und Halunken, weil ich meine Aufsichtspflichten laufend verletzte, weil ich schlampig war bis zur Fahrlässigkeit und nicht einmal zur Kenntnis nehmen wollte, wie die Schlapphüte mir am Ende auf dem Kopf herumtanzten, bin ich nicht der rechte Mann für dieses Amt und verabschiede mich mit Entsetzen und Bedauern? Warum muss er unbedingt noch schnell eine Unschuldslegende stricken? Und das Parlament förmlich in die Rolle des Meuchelmörders drängen?
Wir sind uns fast schon sicher, dass irgendwo im Ausland irgendein christlich-sozialer Hinterwaldlokalverein diesen letzten unrühmlichen Premierauftritt wiederum für preiswürdig halten wird. Nach dem Rücktritt kommt vermutlich sofort die Einladung zur Preisverleihung. Zum krönenden Abschluss wird der Premier geehrt mit der Goldenen Herrgottskrone mit Diamanten ‘Sancta Trinitas’ (der Erlöser höchstpersönlich hat ihm ja soeben in Athen schon sein Großkreuz vergeben) für seine überragende, europaübergreifende Märtyrerleistung beim schuldlosen Rücktritt von seinem verantwortungsvollen Amt im interpretationsdivergenzverseuchten Luxemburg. Wird er denn nun gehen? Ja, er geht. Ohne Einsicht, aber larmoyant und voller Trotz. Kein starker Abgang eines Demokraten. Nur die letzte Überheblichkeitsgeste eines beleidigten Alleinherrschers.