Luxemburgensia

Provinzielle Sehnsucht nach der Belle époque

d'Lëtzebuerger Land vom 20.01.2000

Im bis heute nicht beigelegten Kulturkampf zwischen Klerikalen und Liberalen, Tradition und Fortschritt, Kirche und Staat, Landwirtschaft und Stahlindustrie, der Anfang des Jahrhunderts einen seiner Höhepunkte erlebte, wurde Batty Weber vorübergehend als eine Leuchtfigur liberaler Literatur gepriesen. Schließlich beschreibt sein 1913 in Frankfurt am Main erschienener und autobiographisch beeinflusster Roman Fenn Kaß. Der Roman eines Erlösten den heroischen Aufstieg aus den Niederungen des klerikalen Obskurantismus zum bürgerlichen Individuum im Zeitalter des technischen Fortschritts. "Ich lass mich doch nicht zu Brei zermalmen, dass sie nachher aus mir eine neue Masse kneten, wie sie sie brauchen. Ich weiß selbst, was ich tue," bekannte der 53-jährige Weber feierlich, als in den Nachbarländern der Großstadtroman das bürgerliche Individuum schon wieder begrub.

Bekannt blieb aber der 1860 geborene Lehrersohn Johann Baptist Weber, Chefredakteur der liberalen Luxemburger Zeitung, Kammerstenograph und Gründungspräsident des Luxemburger Journalistenverbands, durch seinen Abreißkalender, eine ab 1913 täglich veröffentlichte Glosse. Denn 27 Jahre lang, bis zu seinem Tod 1940, schrieb Weber an diesem auf anscheinend 7 055 Folgen angewachsenen Monstrum, einer obsessionellen Arbeit, die an die anscheinend über 4 000 Landschaftsbilder seines Zeitgenossen, des Arbed-Architekten und Zwangsaquarellisten Sosthéne Weis erinnert.

Doch trotz des Rufes, den der Abreißkalender zwei Generationen lang genoss, ist er in Buchform kaum noch zugänglich. Deshalb ist es eine lobenswerte Idee der Éditions Guy Binsfeld, eine bescheidene Auswahl von 64 Kalenderblättern, rund ein Prozent des Gesamtwerks, zu veröffentlichen, um die Leser wieder aus erster Hand mit dem gemütlich paternalistischen Plauderton dieser Glossen über Straßenlaternen, Brauereipferde, Briefträger, Denkmäler, Freibäder und den Straßenverkehr in Berührung zu bringen.

Dass der Verlag die Kalenderblätter mit zeitgenössischen Fotos illustrierte, macht die Lektüre abwechslungsreicher und hilft, sich in die Entstehungszeit der Texte zu versetzen. Aber müssen die Bilder dann gleich in Nostalgie-Sepia gedruckt oder zu briefmarkenkleinen Vignetten verunstaltet werden?

Bei der Veröffentlichung dieses Buches konnte der Verlag auf die Vorarbeit des Weber-Sympathisanten, wenn nicht gar -Komplizen Cornel Meder zurückgreifen, der seit Jahren im Staatsarchiv und seiner Zeitschrift Galerie das versunkene Werk literaturhistorisch zu heben versucht und insbesondere den Kalenderbandwurm von Sylvie Kremer-Schmit zusammentragen und verzetteln ließ. Meder steuerte auch eine kurze Einführung bei, in der er Webers Leben zusammenfasst und vor einer Überschätzung Webers warnt.

Ob das Buch tatsächlich Webers "beste Abreißkalenderblätter" enthält, wie der Deckel verspricht, kann der Rezensent in aller Ehrlichkeit nicht beurteilen, weil er nicht sämtliche 7055 Folgen gelesen hat. Dennoch hat es den Anschein, als ob der Verlag nicht nur mit den Illustrationen an die leicht verkäuflichen Nostalgiealben von Mersch bis Schortgen und ihr Lob der guten, alten Zeit anzuknüpfen versuchte. Auch die Textauswahl scheint Webers Hang zur Überbewertung der Stadt Luxemburg und zur provinziellen Idylle, ja zur Sehnsucht nach der Belle époque nicht gegenzusteuern, sondern sogar noch zu verstärken. So dass, mit Ausnahme von zwei Beiträgen, die Leser glatt vergessen könnten, dass die Zeit des Abreißkalenders, von 1913 bis 1940, vom Ersten Weltkrieg über die Weltwirtschaftskrise bis zum Zweiten Weltkrieg, das Zeitalter der Katastrophen, Teil des "thirty-one years world war" (Hobsbawm) war, gegen den vielleicht nur mit einer 7055-teiligen Obsession anzukommen war.

Batty Weber: Abreißkalenderblätter. Éditions Guy Binsfeld, Luxemburg 1999. 144 Seiten, 1475 Franken

Romain Hilgert
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