In der Handelskammer wurde über eine Rentenreform diskutiert, die keine große Partei sich zu eigen machen dürfte

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Aktiv altern:  Im statistischen Schnitt verbringen Luxemburger Pensionäre 25 Jahre  in Rente
Photo: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land du 16.06.2023

Thomas Dominique ist Direktor der Generalinspektion der Sozialversicherung (IGSS), Mathematiker und er war einer der Architekten der Rentenreform von 2012. Trotz seines hohen Amtes und seiner Expertise ist er kein Politiker. Und so ist ihm ein Unbehagen anzusehen, als er am Dienstagabend in der Handelskammer an einem Rundtisch teilnimmt, an dem noch drei andere Experten, beziehungsweise Lobbyisten über eine Reform diskutierten, die weiterginge als die von 2012: Irgendwann muss er darauf verweisen, was „im Gesetz steht“.

Die Fondation Idea aber, die aus der Handelskammer ausgelagerte Denkfabrik mit der vielen Öffentlichkeitsarbeit, hat einen weiteren Band ihrer Schriftenreihe Les grands défis aufgelegt, mit der sie die Parteien vor den Wahlen sensibilisieren möchte. Die Unternehmer auch, damit sie über ihre Netzwerke den Parteien klarmachen, was zu tun ist. Insofern ist die Rolle des Volkswirts und Idea-Direktors Muriel Bouchet auch eine politische, wenn er in dem von ihm verfassten neuen Band, der vom Pensionssystem handelt, zeigt, wie sich bis 2052 noch drei BIP-Prozent mehr an Rentenausgaben einsparen lassen würden, als die Reform von 2012 vorhersah. Christel Chatelin, Handelskammer-Direktorin für Wirtschaft, spricht ebenfalls politisch, wenn sie klarmacht, was es zur langfristigen Absicherung der Renten keinesfalls geben dürfe: Beitragserhöhungen. Die wären schlecht für den Standort. Dass der Beitragssatz im Privatsektor mit aktuell je acht Prozent für den Versicherten und den Arbeitgeber (weitere acht Prozent kommen aus der Staatskasse) niedrig ist, sei „wirklich ein enormer Wettbewerbsvorteil, das sagen die Betriebschefs uns“. Auf die Frage des moderierenden Journalisten, ob ausländische Firmen wegen der hohen Renten nach Luxemburg kämen, muss sie erst mal Luft holen. „Natürlich nicht!“ Die Handelskammer befürworte die Idea-Vorschläge. Beitragserhöhungen kommen darin nicht vor.

Vierter in der Runde ist Salariatskammer-Direktor Sylvain Hoffmann. Der ebenfalls politisch spricht, für die Gewerkschaften, die seine Kammer tragen. Allen voran der OGBL, der vermutlich auf die Straße gehen würde, wenn die nächste Regierung sich zu eigen machte, was Idea vorschlägt. Und der vielleicht auch zum Kampf riefe, wenn umgesetzt wird, was im Reformgesetz von 2012 steht, wegen des hohen Beschäftigungswachstums bishar aber noch nicht nötig war.

Wegen der politischen Risiken, die eine weitere Rentenreform hätte, ist der Rundtisch von vornherein ein wenig müßig. Interessant ist trotzdem die Frage, was mit den Renten geschähe, wenn das Wachstum fällt. Muriel Bouchet hat ausgerechnet, es müssten inflationsbereinigt fünf Prozent im Jahresschnitt sein, wollte man das aktuelle System bei „politique constante“ bis 2070 halten. „Wir sind natürlich für Wachstum“, versichert Christel Chatelin, „aber für ein qualitatives.“ Und: Wer heute Beiträge entrichtet, vertraue darauf, eine gewisse Rente zu erhalten. „Dieses Vertrauen muss bleiben.“

Das ist der Kern der Diskussion: die „Rentenversprechen“. 1987, 1988 und 1991 waren die Renten im Privatsektor auf Druck des OGBL sukzessive erhöht worden, um sie denen im öffentlichen Dienst anzunähern. Der ADR-Vorläufer Eng 5/6-Pensioun fir jiddereen! zog mit dem Rententhema ins Parlament ein. Der Rententisch endete 2002 ausgerechnet unter der Führung eines DP-Sozialministers mit einer Renten-Aufbesserung um elf Prozent. Alles in allem ergab das 33 Prozent mehr seit 1987. Der frühere Präsident der Pensionskasse Cnap, Robert Kieffer, rechnete aus, dass langfristig die Rentenversprechen doppelt so hoch seien wie der Beitragssatz von drei Mal acht Prozent.

Zu einem ähnlich unschönen Resultat kommt Idea-Volkswirt Muriel Bouchet heute. Wobei, wer von Versprechen redet, ein wenig so tut, als sei das System, das auf der Umlage der aktuellen Beitragseinnahmen zur Finanzierung der laufenden Renten basiert, ein Kapitalstock, den die Versicherten aufbauen und dessen Auszahlung ihnen garantiert ist. Das ist er nicht. Anderereits darf auch ein Umlage-System nicht unvorhersehbar werden für die, die daraus eines Tages schöpfen. Und wenn es keines Expertenwissens bedarf, um sich vorzustellen, dass eine wachsende Zahl Beschäftigter eines Tages eine Rente beziehen möchte, die nicht ganz unvorhersehbar ist, und dass zu ihrer Finanzierung mehr Aktive nötig sein werden, sich die Spirale damit immer weiter dreht, was macht man dann?

Weil die EU-Haushaltstechnokratie Sozialversucherungsausgaben über Jahrzehnte hinweg als „implizite Staatsschuld“ ansieht, ist der politische Umgang mit Rentenausgaben über etwa zehn Jahre schwierig. Luxemburg bekommt seit Jahren eine zu hohe implizite Schul bescheinigt. Idea würde von den höchsten Renten ausgehend die Leistungen über die Jahre senken. Ein Renten-Äquivalent von heute 10 000 Euro würde nach dem Idea-Modell im Jahr 2052 nur 9 000 Euro entsprechen, an die 13 Prozent weniger. Dagegen entspräche sie, wenn es bei der Reform von 2012 bliebe, 12 000 Euro. Eine Rente von heute 4 000 Euro dagegen würde mit der Reform bis 2052 auf 5 000 Euro zunehmen. Idea würde sie nicht wesentlich über 4 000 Euro steigen lassen. Wachsen dürften dagegen die kleinen Renten, auf jeden Fall die Mindestrente, die heute bei 2 166 Euro im Monat liegt.

„Zunahme“ unterstellt im Idea-Kalkül natürlich den Index, aber auch eine Anpassung bestehender Renten an die Reallohnentwicklung, die mit einem Plus von ein Prozent im Jahr positiv wäre. Das ist ein interessanter Punkt. Einerseits, weil laut Reformgesetz von 2012 die Reallohn-Anpassung der bestehenden Renten mindestens um die Hälfte gekürzt oder gar ganz abgeschafft würde, sobald die laufenden Ausgaben der Pensionskasse die der Beitragseinnahmen übersteigen. Was nach dem letzten Bilan technique der IGSS, der vor zwei Jahren herauskam, 2027 geschehen könnte. Weshalb der IGSS-Direktor auf das verweist, was „im Gesetz steht“. Und was des Einschnits so wenig nicht wäre. Vorausgesetzt natürlich, die Reallöhne steigen nennenswert. Die Handelskammer und ihr think tank scheinen davon auszugehen. Nichts wissen wollen sie dagegen von der Idee des Salariatskammer-Direktors, zur Finanzierung der Renten „Produktivitätsgewinne“ heranzuziehen. Sylvain Hoffmann spricht von „Automatisierung“ und „künstlicher Intelligenz“. Wie die Handelskammer die Sache sieht, sollten die kapitalintensiven Investitionen in neue Technologien und Prozesse nicht durch neue Steuern belastet werden. Und das wäre ein „Roboter-Rentenkassenbeitrag“ ja, der den Beitrag auf einen Brutto-Arbeitslohn ergänzen würde.

Wie die Vorschläge von Idea im Vergleich zur Reform von 2012 genau einzuschätzen sind, ist nicht leicht zu sagen. Wegen der dahinterliegenden Annahmen und wegen der Perspektive über ein paar Jahrzehnte. Doch die Frage, ob die Renten zu hoch sind, muss erlaubt sein. Ob es zu vertreten ist, die Maximalrente von zurzeit an die 11 000 Euro zu indexieren und an die Reallohnentwicklung anzupassen, ist keine Frage von Klassenkampf, sondern eine von Privilegien, die das System bietet. Eine des vernünftigen Einsatzes der Mittel auch. Und dass Luxemburg es nicht schafft, für eine zunehmende Beschäftigtenzahl im Inland genug Wohnungen bereitzustellen und ihre Mobilität zu regeln, lehrt immerhin die Erfahrung. Bis jetzt jedenfalls.

Dass eine Rentenreform bis nötig sei, hatten bei der Debatte der Reform von 2012 in der Abgeordnetenkammer mit Ausnahme der Linken alle Parteien erklärt. Die parlamentarische Berichterstatterin zum Reformgesetz, Lydia Mutsch von der LSAP, versprach sogar, die Rentenreform fange hiermit erst an. Auch nach dem Sturz Jean-Claude Junckers 2013 sah es danach aus. Doch 2015 zog die Konjunktur wieder an, und der vom Handelskammerdirektor zum Politiker gewandelte DP-Finanzminister Pierre Gramegna fand, erst einmal solle die Reform von 2012 ihre Wirkung entfalten; solange bestehe kein weiterer Handlungsbedarf.

Dass die Parteien im Wahlkampf dieses Jahr weiterzugehen bereit wären und sich für eine Reform bis mandatieren lassen möchten, ist nicht sehr wahrscheinlich. Die ADR vielleicht, die seit 2013 als die radikalste Rentensenkungspartei auftritt. Die CSV hatte 2018 eine weitere Reform angekündigt, blieb in ihrem Wahlprogramm aber unkonkret und wollte erst einmal „rechnen“, wenn sie in die Regierung gekommen wäre. Wie sie das heute sieht, wird sich in den nächsten Wochen zeigen. Die LSAP wird kaum zu einer neuen Rentenreform blasen. Die Position der Grünen gab vergangenen Samstag im RTL Radio vermutlich Vizepremier François Bausch vor, als er über „alternative Einnahmequellen“ nachdachte. Und für die DP sprach vielleicht der Premier unlängst in einem Interview mit TV5, als er auf Emmanuel Macrons Rentenreform angesprochen wurde und erklärte, ehe das Luxemburger System in den „roten Bereich“ gerät, gebe es Alarm im „orangen Bereich“. Eben das steht in der Reform von 2012.

Peter Feist
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