LEITARTIKEL

Wetten?

d'Lëtzebuerger Land du 29.04.2022

Seit der letzten Pensionsreform produziert die Generalinspektion der Sozialversicherung (IGSS) alle fünf Jahre eine „technische Bilanz“ des Rentensystems im Privatsektor. Diesen Dienstag war es wieder soweit. Aber während Ende 2016, als die vorige Bilanz herauskam, der damalige LSAP-Sozialminister Romain Schneider meinte, „bis 2040 sind die Renten abgesichert“, hielt sein Nachfolger Claude Haagen sich mit solchen Aussagen zurück.

Man erinnert sich: Die Reform von 2012, bei der Mars Di Bartolomeo als Minister federführend war, ging recht ruhig über die Bühne. Obwohl sie die Rentenleistungen um 15 Prozent kürzte, aber über 40 Jahre gestreckt. Die Ruhe hatte auch damit zu tun, dass die drei großen Gewerkschaften am Ende ihre Mobilisierung gegen die Reform einstellten. Eines aber nahm vor allem der OGBL Mars Di Bartolomeo und der LSAP übel: Falls die laufenden Rentenausgaben die Beitragseinnahmen übersteigen, würde an „Stellschrauben“ gedreht. Die Jahresendzulage (zurzeit 70 Euro im Monat) würde abgeschafft. Die Anpassung bestehender Renten an die Reallohnentwicklung würde um mindestens die Hälfte gekürzt. Dagegen sollen Beitragserhöhungen nur eine „Möglichkeit“ zur Wiederherstellung der Balance sein. So steht es seither in der Rentengesetzgebung. Die politische Priorisierung lautet unverkennbar, dass die Rentenleistungen eigentlich weiterhin zu hoch seien und die vergleichsweise kleinen Lohnnebenkosten als atout des Wirtschaftsstandorts erhalten bleiben müssten.

Seither schaut die Politik mit einiger Spannung auf die jedes Jahr von der IGSS vorgenommene Berechnung der Prime de répartition pure, die das Ausgaben-Einnmahmen-Verhältnis ausdrückt, und auf die Bilans techniques alle fünf Jahre. 2012 hieß es, 2018 könnten die drei Mal acht Prozent Beitragssatz (acht für den Versicherten, acht für den Arbeitgeber, acht aus der Staatskasse) nicht mehr reichen. Die erste DP-LSAP-Grüne-Regierung berief vorsichtshalber eine Arbeitsgruppe aus Gewerkschafts- und UEL-Vertretern ein. Denn ein Automatismus wären die Abschaffung der Jahresendzulage und die Kürzung der Rentenanpassung nicht. Sie wären nur über eine Gesetzesänderung zu haben, eine Mini-Rentenreform. Der OGBL hatte für diesen Fall Widerstand angekündigt und ein Insistieren auf Beitragserhöhungen. Doch bisher trat der Fall nicht ein. Dafür sorgte das Beschäftigungswachstum, das viel höher lag als die in der Pensionsreform angenommenen durchschnittlich 1,5 Prozent järhlich. Im Schnitt 2013 bis 2020 betrug es 2,8 Prozent. 2017 bis 2019 sogar 3,5 bis 3,6 Prozent. So dass auch die Vermutung der IGSS im Bilan technique von 2016, im Jahr 2023 könnten die Ausgaben die Einnahmen übersteigen, im Wahlkampf 2018 keine der großen Parteien zu eindeutigen rentenpolitischen Aussagen trieb. Auch die CSV, die eine Rentenreform zur Drosselung des „Wachstums“ versprach, wollte erst mal „rechnen“.

Irgendwann aber werden die Ausgaben die Einnahmen übersteigen, solange der seit 1990 geltende Beitragssatz derselbe bleibt. Die Zahl der Altersrenten nahm im Schnitt 2013 bis 2020 mit 4,7 Prozent stärker zu als die Beschäftigung, und die Einnahmen aus Beiträgen (+4,3%) wuchsen langsamer als die Rentenausgaben (+5,5%). Der IGSS-Bilanz vom Dienstag ist zu entnehmen, dass auch für die nächsten zehn Jahre bis 2032 die drei Mal acht Prozent Beitragssatz bei „législation constante“ ausreichend seien. Womit aber gemeint ist, dass vielleicht in der zweiten Hälfte der nächsten Legislaturperiode an den „Stellschrauben“ gedreht werden muss, die bereits im Gesetz stehen, falls 2027 die Balance kippt, wie nun angenommen wird. Für den Fall stellt der Bilan eine Kürzung der Rentenanpassung um drei Viertel in den Raum.

Sozialminister Haagen wollte am Dienstag nicht so weit gehen, zu sagen, dass die nächste Regierung dazu in der zweiten Hälfte ihrer Amtszeit greifen müsse. Er meinte nur, „das könnte man so sehen“. Bei 75 Prozent Kürzung bliebe von der Anpassung der bestehenden Renten an die Reallohnentwicklung aber nicht viel übrig. Schon zwischen 2014 und 2022 lag sie meist im Promillebereich. Dort bliebe sie, um drei Viertel gekürzt, für immer. Die einzige nennenswerte Anpassung wäre dann der Index. Und bei jeder verschobenen oder „modulierten“ Tranche gäbe es noch mehr Krach als derzeit. So dass wohl auch in den nächsten Jahren und für den nächsten Wahlkampf alle großen Parteien erneut die Wette eingehen werden, dass das Wachstum sie davor bewahren wird, an die Renten zu rühren.

Peter Feist
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