Wir sind grenzenlos

One World

d'Lëtzebuerger Land vom 08.08.2014

Die Ukraine ist weit weg, wir haben damit nichts zu tun. Haben wir gedacht. Sagt eine Holländerin, sie legt am Flughafen Blumen nieder. Eben waren Menschen aus dem Himmel gefallen, sie wollten noch viel weiter weg, sie fallen aus dem Himmel in ein Sonnenblumenfeld in der Ukraine, auf Dächer und Landstraßen. Irgendwohin im Nirgendwo, das zufällig Ukraine heißt. Land mit U, vor kurzem noch unbedeutendes Land mit U. Nicht U wie Urlaub. Sondern U wie unbekannt, U wie unbenannt, U wie unscheinbar, uninteressant, unnötig. Sie fallen in einem Krieg, sie fallen in einem Krieg vom Himmel, den niemand nannte und zu dem sich niemand bekannte. Sie wollten woanders hin, mit ihren Träumen und Teddybären. In ein schöneres Anderswo, ein mit Dschungel und Sand am Meer garniertes.

Was haben sie damit zu tun?, schluchzen Angehörige. Mit dem Krieg, mit dem niemand was zu tun hat. Den es ja schließlich gar nicht gibt. Nur Tote, die hoch- oder runtergerechnet wurden auf beiden Seiten: am Anfang eine Handvoll, dann immer mehr und immer mehr. Die Russen zählen auf Russland TV, die Amerikaner zählen auf CNN. Wir glauben ihnen nichts mehr, schon wird es ein bisschen langweilig. Der Regierungstyp mit dem irren Blick, die Grobiane, die schwer bewaffnet auf Landstraßen lungern. Kurz wurde bedeutungsschwanger vom Dritten Weltkrieg fabuliert und stirngerunzelt. Aber man schaffte es nicht, ihn herbei zu schwafeln, und dann wurden die Scharmützel in Kartoffeläckern und in heruntergekommenen Grenzstädten schnell uninteressant. Politiker und Talkshow-Moderatoren verschwanden im Sommerloch, niemand schaute mehr hin.

Wir schauen zur Abwechslung Gaza, bis wir wegschauen, weil es ja nicht zum Anschauen ist.

Aber dann liegen plötzlich Menschen von hier dort in der Natur. Was haben die damit zu tun? Menschen, die fröhlich von Fotos lächeln, Witze gepostet haben. Menschen aus allen menschenmöglichen Ländern, vor allem aber aus dem zivilisierten Westen, landen auf einem Schlachtfeld. In einem Osten, der nicht der Nahe ist, nicht der Ferne; ein gänzlich unbekannter Osten war das bis jetzt. Ohne den man aber bestens auskam. Man kannte ihn kaum beim Namen, wozu auch! Die Menschen, die man in den folgenden Kommentaren häufig als unschuldig bezeichnete, waren auf der Strecke geblieben. Auf einer Strecke, die niemand mehr interessiert hatte. Jetzt schauen alle hin, kurz.

Wir sind grenzenlos, wir reisen von hier nach dort und wieder fort. Als Weltbürgerinnen und aufgeklärte Konsumentinnen bewegen wir uns souverän durch Zeit- und Klima- und Währungszonen. Eine kleine Portion von der großen Welt, bitte! Beherzt greifen wir zu, nehmen von dem, was die Welt an Schönem und Leckerem für uns bereithält. Wir zirkulieren aber mit Vorliebe unter solchen, die uns möglichst ähnlich sind. Von den andern lassen wir uns kurz was vortanzen, sie dürfen uns ästhetisch erfreuen oder eine authentische Speise mit Hygiene-Zertifikat auftischen. Allmählich werden wir allerdings etwas ungehalten. Denn die uns zur Verfügung stehenden Freizeitzonen schrumpfen dramatisch. Statt Kreuzfahrten haben manche Gebiete neuerdings Kreuzigungen im Programm, da hört der Spaß aber auf!

So viel Welt immer und überall, wir mittendrin. Dann soll die Welt aber bitte wieder aufhören und zu Hause bleiben. Spätestens wenn wir in die Hausschuhe geschlüpft sind. Dann reicht es wieder! Aber nicht mal da macht sie halt. Unangemeldet und unrasiert steht die Welt vor unserer Haustür, mit Sack und Pack und Kind und Kegel.

Ist der kleine Junge aus der Nachbarschaft, der mit dem plötzlich großen Bart, wirklich in einen Krieg gezogen? Und kommt der schwarze Mann im Bus vielleicht geradewegs aus Afrika? Und wird er vielleicht husten, und ein Tröpfchen wird auf unserer Oberlippe landen und den Anfang vom Ende Europas einläuten? Oder der Welt. Oder von uns, mindestens.

Das Weltwürmchen erschrickt. Am liebsten würde es sich hinter seinem Misthaufen verschanzen und nur ab und zu ein bisschen fernsehen.

Michèle Thoma
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