Die Resultate der Gemeindewahlen zu verfolgen, sei anstrengender als Formel 1 zu schauen, meint Marc Goergen. Hin und her, rauf und runter gehe es mit den Zahlen in den unterschiedlichen Gemeinden. Goergen sitzt in den für den Wahlkampf angemieteten Parteiräumlichkeiten in Petingen hinter zwei Bildschirmen in einem fensterlosen Büro, neben ihm liegen zwei Smartphones. Um ihn herum sitzen Kadidat/innen aus Differdingen, wie die 27-Jährige Sekretärin Morgan Engel, die ihren Sitz sicher hat, und der 30-Jährige Bauingenieur Granit Shala, dessen Sitz wackelt und schließlich aufgrund von sieben fehlenden Stimmen wieder abfällt. Auch aus Differdingen gekommen ist der CFL-Angestellte Yannick Retter, er scrollt auf seinem Laptop über die Resultate in unterschiedlichen Gemeinden. Goergen motiviert sie: „Ihr könnt Morgan zuarbeiten, indem ihr euch in Kommissionen einschreibt. So wird die Partei in Differdingen gestärkt.“ Von seinem Büro aus twittert Goergen: „Am Süden sinn d‘Piraten, iwwerall wou se ugetruede sinn, als Partei an de Gemengerot komm, do wou schonn ausgezielt ass.“ Man freut sich über die abgehängte Fokus-Partei: „déi hunn ofgeloost“. Und in Petingen würden die Resultate noch nicht vorliegen, weil den Auszählenden bei so viel Piraten-Zuspruch beim Zählen schwindelig werde, scherzt der pensionierte Totengräber Jean-Pierre Ecker gut gelaunt. „Wir sind stolz. In Colmar-Berg stellen wir die erste Piraten-Bürgermeisterin“, behauptet Goergen gegen 19.30 Uhr.
Vor dem Kabuff, aus dem heraus Marc Goergen die Gemeindewahlen kommentiert, ist die Stimmung gelassen. In einer Fernsehecke mit Piraten-Strandstühlen kann man die RTL-Télé „Elefantenronn“ verfolgen. Vor der Zentrale steht ein Pizza-Truck, aus dem heraus der ofengebackene Mozzarella dampft, im Kühlschrank liegt Bio-Limonade, am Fass kann man veganes Funck-Bricher-Bier zapfen – jeder bedient sich nach eigenem Ermessen. Die Anwesenden sind jung und alt, bunt gekleidet, zuvorkommend und unkompliziert. Tätowiert ist nahezu jede zweite Person. Einige Jugendliche monieren, dass zu viele Pizzavarianten mit Fleisch rumgehen. Die Partei hat mit Tierschutzthemen auf sich aufmerksam gemacht. Marc Goergen schrieb parlamentarische Anfragen über Tiertransporte und Tierheime. In dem Petinger Wahlprogramm präsentieren die Piraten sich als die „déi eenzeg original Déireschutz-Partei“. Am Sonntagabend wird zudem behauptet, Carole Hartmann (DP) ziehe im Winter eine Mütze mit echtem Pelz an, als sie ihr Wahlresultat auf RTL kommentiert (auf Land-Nachfrage dementiert sie dies). Der Tierschutz dient unter anderem zur politischen Abgrenzung und Selbstdarstellung.
Vor allem aber ein Mann im Osten besetzt das Thema: Der Immobilienhändler Daniel Frères, Mitglied des Remicher Gemeinderats und Präsident der Tierschutzorganisation „Give us a Voice“. Allerdings nicht immer im Positiven. 2021 wurde er zu einer Geldstrafe verurteilt, weil er sich einen kranken Hund unter Vorspiegelung falscher Tatsachen aneignete. Im gleichen Jahr hatte er einen Shitstorm gegen Sassenheimer Bürgermeisterin Simone Asselborn-Bintz (LSAP) unterstützt, nachdem diese ihren Hund einschläfern lassen musste. In Remich hat Frères mit fast 15 Prozent der Stimmen ein gutes Resultat eingefahren. Wird das Krawallpotenzial Frères den nationalen Wahlkampf im Osten leiten? Das wisse man noch nicht – heißt es später am Abend von Tommy Klein, politischer Berater der Partei, Ko-Koordinator und Kandidat für die Nationalwahlen im Zentrum. Die Wahlresultate müsse man noch analysieren. Es habe auch Überraschungen gegeben: Der sozialliberale und seit langem politisch engagierte Raymond Remakel habe es in Redingen nicht mehr ins Rathaus geschafft. Eigentlich sollte er im Oktober im Nord-Bezirk als Spitzenkandidat auftreten.
Die Schlappe im Westen bildet jedoch eine Ausnahme: 2017 erhielt die Partei nur drei Mandate in Proporz-Gemeinden, am Sonntag 13. In 27 Gemeinden ist sie mit insgesamt 218 Kandidat/innen angetreten. Während der Pandemie fiel insbesondere ihr Abgeordneter Sven Clement als Ein-Mann-Betrieb mit Oppositionspolitik auf. 2020 prophezeiten die Umfragen der Partei den Verlust eines Sitzes. Während der Corona-Pandemie änderte sich dies schlagartig: Ende 2021 kam sie auf sieben Sitze, stabilisierte sich dann 2022 bei sechs Mandaten. Sven Clement tauchte im November 2021 zudem unter den fünf beliebtesten Politiker/innen auf, zwei Jahre zuvor lag er auf Platz 29. „Wir gehen gestärkt in die Nationalwahlen. Die Prognosen wurden heute Abend bestätigt“, meint Tommy Klein am Wahlabend. Dabei suchte die 2009 gegründete Partei händeringend nach politischem Personal. In Esch und Hesperingen wurden mehrere Kandidaten ohne Foto auf dem Wahlplakat abgebildet. Sven Clement erklärte am Montag auf RTL-Télé, sie hätten den Foto-Termin aufgrund eines Urlaubs verpasst. „Und wussten die Personen, auf was sie sich einlassen?“, fragte Moderatorin Caroline Mart. Sven Clement schmunzelt und antwortet mit einem nicht ganz überzeugenden „ja“. Spricht man Tommy Klein, Sven Clement und Marc Goergen auf ihr Erfolgsrezept an, reden sie von „Authentizität“. Die Piraten seien noch keine verbrauchte Partei und agiere konsequent partizipativ.
Soweit die Eigendarstellung. Blättert man beispielsweise durch das Petinger Wahlprogramm, lässt sich daneben die These aufstellen, dass die Partei ohne ideologischen Überbau arbiträr in alle Richtungen schießt und deshalb rechts und links fischen kann. Sozialliberale Positionen stellt sie in den Vordergrund, indem sie mit dem Buzzwort „Selbstbestimmung“ wirbt (ohne näher zu definieren, wie Selbstbestimmtheit innerhalb eines Kollektivs gelebt werden sollte), daneben ist sie regelmäßig auf LGBTIQ-Veranstaltungen unterwegs und sucht den Dialog mit ukrainischen Flüchtlingen. Sie gibt sich digital und kokettiert mit dem Begriff „modern“: Sie fordert „moderne Klassenzimmer“ und „moderne Spielplätze“. Bei Umweltthemen zeigt sie sich technikaffin: Elektrobusse sollen in Petingen Mitfahrende an mit Solarpanels ausgestatteten Bushaltestellen abholen. Für die Linke, ADR und LSAP ist sie eine Konkurrenz, weil ihre Parteizentrale in Petingen zugleich ein „Bürgerzentrum“ ist – Geringverdienenden soll ein offenes Ohr geboten werden. Sie wirbt mit dem Slogan „eis Mammensprooch soll respektéiert ginn“, ohne zugleich einen fremdenfeindlichen ADR-Einschlag aufzuweisen. In Luxemburg-Stadt und Esch begeben sie sich auf DP und CSV-Terrain, wenn sie auf ihren Plakaten mehr Polizeipräsenz fordern. Und zwischendurch lassen die Piraten den in Demokratien beliebten Begriff „Transparenz“ fallen.
Tommy Klein fährt gegen halb zehn mit seinem Tesla vor und ruft durch das Fenster, noch bevor er parkt: „Ich bringe euch die neue Bürgermeisterin.“ Neben ihm sitzt Mandy Arendt, Zweitbestgewählte in Colmar-Berg. Die 27-Jährige Erzieherin und Sprecherin der Jugendpartei „komme extrem gut an“, heißt es von einem Parteimitarbeiter. Im RTL-Background Mitte Mai beherrschte sie als Newcomerin bereits den Politik-Slang: flüssig reden – und falls man keine Antwort auf eine Frage weiß, einfach ins Mikrofon schwatzen, was man unbedingt loswerden will. Vom ausscheidenden Schöffenrat hört man, ihre Oppositionsarbeit sei konstruktiv und diplomatisch gewesen. Zwei Tage nach dem Wahlabend wird Mandy Arendt in Colmar-Berg ins kommunalpolitische Höchstamt gehoben.
Später am Abend wird die Zuversicht der Petinger Piraten bestätigt: Sie können ihre Sitze von zwei auf vier verdoppeln. Weil Petingen vor zwei Jahren die 20 000-Einwohner/innen-Marke überschritten hat, sind erstmals 19 statt 17 Sitze im Gemeinderat zu vergeben. Nachdem sich umarmt und gratuliert wurde, setzt sich Marc Goergen wieder hin. Starrt auf seinem Bildschirm auf die Minus
12 Prozentpunkte am CSV-Balken, spitzt die Lippen, nickt kurz und kommentiert: „D’CSV huet ofgeloost.“ Er nimmt sein Telefon und ruft bei Romain Mertzig, LSAP Spitzenkandidat und Erstgewählter, an: „Ich biete Dir den Bürgermeisterposten an. Weisst Du noch, vor sechs Jahren meinte ich, du könntest nächstes Mal Bürgermeister werden? Wer hätte gedacht, dass es so kommen würde.“ Der Pirat Goergen kommt auf 2 435 Stimmen (2017 waren es 972), womit er auf Platz vier landet. Drei Tage vor den Wahlen machte er auf Twitter Stimmung gegen Romain Mertzig – für seine Besichtigung eines Stierkampfs in Spanien. Am Wahlsonntag stëppelte er gegen die Grüne und dessen Mitglied Camille Müller. In den letzten Jahren hat der Pirat Christian Welter im Petinger Rat brauchbare Fragen an den Schöffenrat gestellt, wie die nach dem Anbau biologischer Lebensmittel in der Gemeinde, der IT-Ausstattung an Schulen und Hygieneprodukten für Schülerinnen sowie Umweltkompensationsmaßnahmen. Aber diese positiven Impulse gehen unter, wenn Marc Goergen – nicht nur als Gemeinderat, sondern auch Abgeordneter – nach Lust und Laune links und rechts gegen andere Politiker austeilt. Lobende Worte für Amtsinhaber/innen anderer politischer Farben hört man nicht. Dem Stëppeler fehlt das Gespür für Allianzen.
Diese Vorgehensweise und die Unberechenbarkeit einer Partei ohne klare Satzung sowie leichter Anti-Establishment Note schreckt nun mögliche Koalitionspartner ab. Die DP und die Grünen wollen nicht mit den Piraten koalieren. Von Barbara Agostino (DP) heißt es auf Nachfrage, vor allem die Forderung nach frei zur Verfügung stehendem Wi-Fi fände die DP populistisch. „Wann een ee korrekte Mënsch ass, ass et schwéier mat esou Mënschen Zopp z’iessen“, behauptet Jean-Marie Halsdorf, bisheriger CSV-Schöffe und Anwärter auf den Bürgermeisterposten, gegenüber RTL. (Gegen Halsdorf lief als Innenminister 2012 eine Voruntersuchung wegen eines Korruptionsverdachts, der später allerdings nicht bestätigt wurde). In der Nachbargemeinde Käerjeng schließt sein CSV-Kollege Michel Wolter Koalitionsgespräche mit dem ADR-Politiker Fernand Kartheiser nicht aus.
Nachdem die meisten Wahlresultate bekannt sind, kommt Sven Clement angereist. Sektgläser gehen rum, die Partei zeigt sich vereint. Partei-Mitarbeiter deuteten allerdings an, dass Marc Goergen und Sven Clement bis auf ihre Digital-Philie sehr unterschiedliche Charaktere sind. Sven Clement ist viel im Ausland unterwegs, unternimmt Bildungsreisen und interessiert sich nur am Rande für Kommunalpolitik. Ganz anders Marc Goergen. Er entspricht dem Idealtypus des Gemeindepolitikers: Vor zehn Jahren war er der Petinger Karanval-Prinz, er präsidiert die lokale Musikkapelle, ist Kassenwart des Jugendhauses und Mitglied des Vereins Vermëssten Déieren. Goergen war mal DP-Mitglied und Clement war während seiner Studienzeit bei der LSAP aktiv. Interne Stimmen behaupten, dass die Koordinationsarbeit für die Gemeindewahlen fast ausschließlich Goergen leistete.
Danielly Kaufmann, eine in Brasilien geborene Mitarbeiterin, die aufgrund luxemburgischer Vorfahren die luxemburgische Staatsangehörigkeit zugesprochen bekam und die Wahlkampagne audiovisuell dokumentiert, schätzt die Diversität der Partei: „Sie hat das Potenzial unterschiedliche Personen zusammenzubringen“. Eine gewisse Vielfalt kann man der Partei tatsächlich nicht absprechen, zumindest was die Berufstätigkeit der Kandidat/innen betrifft. Auf Piratenlisten trifft man auf Personen mit Masterabschluss, aber auch vergleichsweise viele Busfahrer, Handwerker/innen, Erzieher/innen und Haushälterinnen. Vielleicht schwingt bei den bürgerlichen Parteien zugleich eine Prise Abneigung gegenüber Politiker/innen mit wenig formaler Bildung mit, wenn sie von „esou Mënschen“ sprechen, wie Jean-Marie Halsdorf es tat. Eine Befragung ergab zudem, dass deren Wähler/innen ein schmales Portemonnaie besitzen. Zu Beginn des Jahres behauptete Marc Goergen gegenüber dem Land, Wahlziel der Piraten sei es, in die Regierung zu kommen. Dieser Enthusiasmus dürfte nach den gescheiterten Koalitionsgesprächen in Petingen ordentlich gedämpft sein. Ob das die Wähler/innen im Oktober davon abhält, für violette Beliebigtkeit zu stimmen? Vermutlich nicht.