Erster Atlas der europäischen Werte

Europäer gibt es nicht

d'Lëtzebuerger Land vom 11.05.2012

„Amerika gibt es nicht“ heißt eine Kindergeschichte des Schweizer Autors Peter Bichsel. An diese fühlt man sich erinnert, wenn man das erste Kapitel des Atlas of European Values aufschlägt. Unter dem Stichwort Europa wird dort in 46 Staaten einschließlich Russlands nach der ersten Identität gefragt. Zur Auswahl stehen Welt, Europa, Land, Region und Stadt.

Das Ergebnis ist ernüchternd. Nur vier Prozent der EU-Europäer fühlen sich zuerst als Europäer, in den nicht EU-Staaten sind es zwei Prozent. Fazit: Europäer gibt es, beinahe, nicht. Luxemburger können sich trösten. Denn von den wenigen, die es doch gibt, wohnen die meisten in Luxemburg. Der überzeugteste Europäer ist männlich, 18-30 Jahre alt, Akademiker, verdient über 3 000 Euro im Monat, lebt in einer großen Stadt, hat keine Kinder, aber einen Job und ist Luxemburger. Sein Gegenstück ist ein Mütterchen aus Russ[-]land, das in einem Dorf lebt, kaum verdient und über 61 Jahre alt ist.

Die Professoren Loek Halman und Inge Sieben von der Universität Tilburg haben gemeinsam mit der Wissenschaftsautorin Marga van Zundert den Atlas of European Values im Rahmen der European Values Study (EVS) in diesem Frühjahr bei Brill in Leiden herausgegeben. Seit 1979 werden für EVS soziologische Daten erhoben. Der Atlas ist eine bisher einmalige Zusammenfassung der Ergebnisse auf 200 Karten. Untersucht werden die Themen Europa, Familie, Arbeit, Religion, Politik, Gesellschaft und das subjektive Wohlbefinden. Die meisten verwendeten Daten wurden 2008 erhoben. Wo es angezeigt ist, greifen die Autoren auch auf frühere Erhebungen zurück. So kommen sie zu dem Schluss, dass die jüngste untersuchte Altersgruppe (18 bis 30 Jahre) seit der letzten großen Erhebung 1999 deutlich konservativer geworden ist.

Geht man vom ersten Befund aus, dass es Europäer eigentlich gar nicht gibt, dürfte der Atlas nicht von europäischen Werten sprechen, sondern von Werten in Europa. In den meisten Ländern identifizieren sich die Bürger übrigens als erstes mit der eigenen Stadt. Interessant an der Studie sind oft die Details. So gibt es innerhalb der EU in Spanien die geringste Zahl von Menschen, die sich zuerst als Europäer fühlen, gleichzeitig gehört Spanien zu den Ländern mit der höchsten Zustimmungsrate zur EU. Ähnlich paradox wie die Spanier sind viele Bewohner der jugoslawischen Nachfolgestaaten. Obwohl in allen Ländern bis auf Slowenien und dem Kosovo das Vertrauen in die EU gering ist, ist dort die Zustimmung für einen Beitritt besonders hoch.

Die Verschärfung der Euro-Schuldenkrise hat wahrscheinlich einige Aussagen schon verändert, denn die Autoren konstatieren gerade in allen Bereichen, die die Politik berühren, dass die Aussagen der Befragten stark von der aktuellen politischen Situation abhängen. Dennoch oder gerade deshalb haben es sich die Autoren nicht nehmen lassen, gesondert auf den Grad der Moralität in Griechenland einzugehen. Mehr als doppelt so viele Griechen, verglichen mit dem europäischen Durchschnitt, sind demnach bereit sich staatliche Gelder zu erschleichen. Die griechische Steuerehrlichkeit bewegt sich auf durchschnittlichem Niveau.

Einige Einstellungen zu Demokratie und Politik lassen aufhorchen. In den meisten EU-Ländern liegt das Interesse an Politik zwischen 35 und 45 Prozent. Nur in den Niederlanden, Deutschland und Österreich sind es mehr als 55 Prozent. Luxemburg liegt zwischen 50 und 54 Prozent, Frankreich zwischen 45 und 49 und Belgien unter 35 Prozent. Die Zustimmung zur Demokratie ist in allen EU-Staaten auf sehr hohem Niveau. Gleichzeitig sprechen sich fast 60 Prozent aller EU-Europäer für technokratische, nicht-gewählte Regierungen aus. Über 20 Prozent sehen in der Diktatur eine Alternative zur Demokratie, in den nicht EU-Ländern liegt dieser Anteil sogar bei 60 Prozent. In Frankreich, Portugal, Italien, Belgien, Deutschland und Ungarn ist Gleichheit wichtiger als individuelle Freiheit. Bei einer Auswahl zwischen der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, mehr politischer Mitsprache, dem Kampf gegen den Preisanstieg und der Redefreiheit entscheiden sich Portugiesen, Spaniern, Franzosen, Iren und Nordiren, Belgier, Luxemburger, Österreicher, Polen und Litauer für den Kampf gegen den Preisanstieg. Griechen, Italiener, Slowenen, Deutsche, Briten, Letten und Finnen wollen mehr politische Mitsprache. Schweden, Esten Tschechen, Slowaken, Ungarn, Rumänen und Bulgaren geht es vor allem um die öffentliche Ordnung. Allein die Niederländer sprechen sich für den Schutz der Redefreiheit aus. Diese Werte lassen ahnen, dass die wirtschaftliche Krise, sollte sie nicht gelöst werden, schon bald in eine politische Krise umschlagen könnte, die über die reine Abwahl von Regierungen weit hinaus geht. Der erste Präsidentenwahlgang in Frankreich und das griechische Wahlergebnis vom letzten Sonntag sind dafür ein deutliches Warnsignal.

Europa kann nach wie vor als toleranter Kontinent gelten. Wenn die Europäer aus fünf vorgegebenen Kategorien auswählen sollen, neben wem sie nicht leben möchten, dann entscheiden sie sich zuerst gegen Drogensüchtige, es folgen Kriminelle, Rechtsextremisten, andere Hautfarbe (race) und Moslems. Geht es darum, neben wem sie am liebsten wohnen wollen, differenziert sich das Bild. Die Mehrheit der Europäer entschied sich für große Familien. Deutsche, die Schweizer und Litauer wählten Menschen mit anderer Hautfarbe (different race). Franzosen, Briten, Niederländer, Skandinavier, Finnen, Esten und Letten wünschten sich Juden als Nachbarn. Zur Auswahl standen Kriminelle, andere Hautfarbe (race), Rechtsextremisten, große Familien, Moslems, Einwanderer und Juden.

EU-Politiker treibt die Frage um, wie sie die Zustimmung zur Union steigern können. Das Kapitel Religion bietet einen Fingerzeig. Dort heißt es, dass eine signifikante Minderheit an Talismane glaubt. Vielleicht sollte die EU-Kommission Anhänger des Heiligen Robert verteilen. Ein Konterfei von Robert Schuman am Halskettchen ist wahrscheinlich identitätsstiftender als jede noch so gut gemeinte Rede von José Manuel Barroso und Kollegen.

Christoph Nick
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