ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Das letzte Tabu

d'Lëtzebuerger Land du 27.11.2020

Am Freitag kündigte Premier Xavier Bettel eine Anpassung des gesetzlichen Mindestlohns an die allgemeine Lohnentwicklung an. Das ist in der Krise ein Zugeständnis der DP an die LSAP. Vielleicht weil die Sozialdemokraten der Mittelstandspartei gönnten, dass Geschäfte, Wirtshäuser und Restaurants so lange geöffnet blieben, bis binnen drei Wochen über hundert Menschen an Covid gestorben waren. Blitzschnell klagte die Union des entreprises luxembourgeoises in einer Presseerklärung, dass die Mindestlohnerhöhung um 60 Euro lohnintensive Branchen erdrücke, die Wettbewerbsfähigkeit schmälere, die Arbeitslosigkeit, die Zahl der Konkurse und die wirtschaftliche Gegensätzlichkeit steigere.

Nicht nur Unternehmerlobbys, auch der Wirtschaftsminister, der Finanzminister, die Abgeordneten, die Experten und die Presse kommentieren regelmäßig mit besorgtem Unterton die Entwicklung der Einkommen aus Lohnarbeit. Aber nie verlieren sie ein Wort über die Einkommen aus Vermögen, „the engine which drives Enterprise“, so John Maynard Keynes (A Treatise on Money, 1930, Bd. II, S. 149). Selbst in den Notes de conjoncture des Statec fehlen Betrachtungen über den „revenu de la propriété“, die „dividende“, das „résultat de l’exercice“, den „revenu distribué“ oder den „bénéfice“. Die Begriffe kommen in den Konjunkturanalysen nicht einmal vor. Die amtliche Neugier hört bei der Wertschöpfung auf – vor deren Aufteilung.

Anders als beim Mindestlohn erörtert nie jemand, wie hoch die entnommenen Betriebsergebnisse sind. Ob sie zu schnell zunehmen, ob sie die Kaufkraft der Haushalte belasten, ob sie diejenigen der Nachbarländer übertreffen und der Wettbewerbsfähigkeit schaden. Wird nicht genug investiert oder ist die Produktivität zu niedrig, geben Unternehmerlobbys dem Personal in den Betrieben und in der Regierung die Schuld. Nie fragt jemand, ob vielleicht zu viel Mehrwert als Dividenden an die Aktionäre überwiesen wird. Ob das Geld nicht besser in den Unternehmen belassen werden soll, um es zur Schaffung von Arbeitsplätzen, zur Verbesserung der Produktionsabläufe oder als Rücklagen für Seuchen und Krisen einzusetzen.

Angaben über aggregierte Profite und ihre Ausschüttung als Dividenden findet man nur tief vergraben in der volkswirt-schaftlichen Gesamtrechnung, die das Statec nach den Sec-2010-Vorgaben der Europäischen Kommission erstellen muss. Danach machten die Dividenden 1995 landesweit 2,5 Milliarden Euro aus. Das waren 16 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. 2001 war die Dividendenmasse plötzlich größer als das gesamte Bruttoinlandsprodukt des Landes, 2013 war sie mehr als doppelt so groß. 2018 betrugen die Dividenden 108,2 Milliarden oder 180 Prozent des Bruttoinlands-produkts. Außerhalb der Finanzbranche machten die Dividenden 1995 noch
53 Millionen Euro aus, 2018 schon 7,7 Milliarden Euro. 1995 war die Lohnmasse in der „Realwirtschaft“ 67 Mal so groß wie die Dividendenmasse, 2018 war sie nur noch zweimal so groß.

In seiner volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung erscheint Luxemburg als ein Schwarzes Loch, dessen auf engstem Raum zwischen Kirchberg und Cloche d’Or verdichtete Masse den Mehrwert aus anderen Ländern unaufhaltsam anzieht und verschlingt. (Die Dividenden aus dem innerhalb der Landesgrenzen erarbeiteten Mehrwert werden pietätvoll nicht getrennt aufgeführt.)

Die Unternehmensgewinne scheinen das letzte Tabu zu sein. Vielleicht weil Profit durch unbefleckte Empfängnis zu entstehen scheint: Die auf die Zirkulation fixierten neuklassische und die Grenznutzentheorie beschränken sich darauf, den Profit zu rechtfertigen statt zu erklären. Vielleicht weil Dividendenbezieher keine schlafenden Hunde wecken, nicht den Neid ihrer bald um
60 Euro verbesserten Beschäftigten schüren möchten. Vielleicht weil ein Tabu ursprünglich ein religiöses Verbot ist, das in einer Gesellschaft das Heilige vom Profanen trennt.

Romain Hilgert
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