Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs zu den Studienbörsen: Was, wenn in Luxemburg arbeitende Grenzgänger auch Anrecht auf Chèques service haben?

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d'Lëtzebuerger Land vom 05.07.2013

Für die einen war es ein Schock, für die anderen eine frohe Botschaft. Als der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg am 20. Juni verkündete, dass die Residenzklausel bei den Luxemburger Studentenbörsen nicht mit EU- Recht vereinbar sei, sondern eine mittelbare Diskriminierung bedeute, dass also Kinder von Grenzgängern ein Recht auf Studienbeihilfen haben, ist den Betroffenen ein Stein vom Herzen gefallen.

Was die Kläger freut, ist für die Regierung ein mittleres Desaster: Nicht nur, dass sie nun bis Herbst eine Regelung finden muss, um die Studienbeihilfen neu zu regeln und keine Strafzahlungen nach Brüssel zu riskieren. Der Gesichtsverlust der politisch Verantwortlichen ist beträchtlich, hatte doch der damalige Hochschulminister François Biltgen (CSV) sich überzeugt gegeben, die 2009 geänderten Studienbeihilfen seien rechtlich abgesichert. Inzwischen ist Biltgen Richter-Kandidat für den EuGH, seine Nachfolgerin darf derweil seine Scherben zusammenkehren.

Die Entscheidung der Richter stellt aber nicht nur die politisch unerfahrene CSV-Hochschulministerin Martine Hansen vor ein Riesenproblem: Auch im CSV-geführten Familienministerium sorgt der Urteilsspruch für Bangen und Nervosität.

Warnungen gab es genug. Dass die Residenzklausel, die Grenzgänger von den Studienbeihilfen und anderen Leistungen ausschließt, diskriminierend sei und wahrscheinlich gegen europäisches Recht verstoße, warnte der OGBL bereits 2007, nachdem die Regierung den Kinderbonus einführte und die Grenzgänger zunächst vom steuerlichen Freibetrag ausnehmen wollte. Im November 2009 mobiliserte die europäische Gewerkschaftsvereinigung CES angesichts der Luxemburger Beschränkung der Studienhilfen auf einheimische Arbeitnehmer gegen das „antieuropäische Gesetz“. Der OGBL reichte Klage ein. 2008 schrieb die Privatangestelltenkammer in ihrem Gutachten zum Haushaltsentwurf 2009, das Vorhaben der Regierung, die geplanten Chèques service an den Luxemburger Wohnsitz zu binden, sei diskriminierend.

„Es gibt eine gewisse Analogie. Das Prinzip ist dasselbe“, sagt Guy Thomas, vom Land kontaktiert. Der Luxemburger Rechtsanwalt hatte für seine Mandanten vor dem Luxemburger Verwaltungsgericht gegen die Verweigerung der Studienbörsen geklagt. Insgesamt waren es rund 900 Einzelklagen, die die Verwaltungsrichter dazu veranlassten, die Problematik zur Klärung an den Europäischen Gerichtshof weiterzureichen.

Das Urteil der Richter überrascht den Rechtsanwalt nicht: „Die Grenzgänger arbeiten hier, sie zahlen Steuern, also haben sie dasselbe Recht auf Sozialleistungen wie in Luxemburg lebende Arbeitnehmer auch“, betont er. Christophe Knebeler, Pressesprecher beim christlichen Gewerkschaftsbund LCGB, stößt ins selbe Horn: „Wir haben immer gesagt, auch im Rahmen der Tripartite-Gespräche, dass die Diskussion kommen wird.“ Überrascht habe lediglich, dass das Urteil des EuGH so eindeutig ausgefallen sei, so Knebeler. „Damit hat Luxemburg ein Präzedenzfall für ganz Europa geschaffen.“

In der Regierung hatte man sich bis zur letzten Minute siegesgewiss gegeben, schließlich hatte der EuGH-Generalanwalt Paolo Mengozzi in seiner Vorabbeurteilung des Falls signalisiert, eine Residenzklausel sei unter gewissen Bedingungen möglich, allerdings müsse die Verhaltnismäßigkeit geprüft werden. Diese Hoffnung der Politik hat sich zerschlagen. Nun kommen statt der ursprünglich geplanten 90 Millionen Euro für das Studienhilfeprogramm rund 200 Millionen auf den Staat zu, von der ungeklärten Frage möglicher Rückzahlungen gar nicht zu reden.

Spätestens seit dem Urteil dürften auch den Verantwortlichen im Familienministerium Schweißperlen auf der Stirn stehen. Hatte doch der Staatsrat in seinem Gutachten zur geplanten Reform des Kinderbetreuungssektors vom März ebenfalls vor dem Problem der so genannten Exportabilität gewarnt: allerdings im Kontext der Dienstleistungsschecks. Die Frage, um die sich alles dreht, lautet, wie auch schon bei den Studienbörsen, ob es sich bei den Dienstleistungsschecks um eine familien-/sozialpolitische Leistung handelt, auf die alle luxemburgischen Arbeitnehmer ungeachtet ihres Wohnorts Anspruch haben, oder nicht. Oder ob ihr Ausschluss gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung und der Freizügigkeit verstößt.

Träfe die Lesart von der Familienleistung zu, würden sich für den Staat die Kosten für die Kinderbetreuung auf einen Schlag verdoppeln, heißt es im Vorentwurf zu den Änderungsvorschlägen aus dem Familienministerium, der dem Land vorliegt. 223 Millionen Euro ließ sich der Staat die Kinderbetreuung 2012 kosten. Die Inspection générale de la sécurité sociale zählte Ende Dezember 24 689 Grenzgänger-Haushalte mit einem oder mehreren Kindern unter zwölf Jahren, die, gesetzt den Fall, dann Anspruch auf die Schecks hätten.

Weil der verschuldete Staat diese Summen nicht schultern will, auch nicht kann, habe man den Text „präzisiert“, wie es Regierungsberater Nico Meisch vom Familienministerium ausdrückt. Vergangene Woche stellten seine Beamten die Änderungen den Abgeordneten im Familienausschuss vor. Kerngedanke: Die Dienstleistungsschecks sollen als Integrationshilfe für hier lebende Einwohner dienen. So soll gerechtfertigt werden, das Tausende von Grenzgängern von der Leistung ausgenommen sind. „Wir wollen die soziale Mixität und die Integration hier ansässiger Kinder in die Luxemburger Gesellschaft fördern“, sagte Meisch dem Land. Die Dienstleistungsschecks richteten sich gezielt an Familien mit Kindern in den Gemeinden. Indem es die Schecks mit dem Ziel einer nationalen Politik zur Förderung der Integration und nicht-formaler Bildung eng verknüpft, hofft das Ministerium, bestehende Interpretationsunsicherheiten über den Charakter der Leistung endgültig aus dem Weg zu räumen.

Das entspricht einer gewissen Logik. Schon heute sind die Schecks abhängig von sozioökonomischen Kriterien: Kinder von Eltern mit geringem Einkommen oder Alleinerziehenden sollen mit den Dienstleistungsschecks besonders gefördert werden. Ihre Anfragen auf einen Betreuungsplatz werden von Gemeinden bevorzugt behandelt, sie erhalten einen günstigeren Tarif.

Damit es keine Zweifel gibt, sollen die Dienstleistungsschecks auch nicht länger an die Haushalte zur Einkommensverbesserung gehen, sondern an die Kinderbetreuungseinrichtungen respektive ihre Träger direkt. Die verpflichten sich im Gegenzug, eine hochwertige Betreuung auf der Grundlage eines staatlich definierten Referenzrahmens anzubieten. „Somit haben nicht mehr die Eltern Anrecht auf die Leistung, sondern die Einrichtung bekommt das Geld“, erklärt die CSV-Abgeordnete Tessy Scholtes, Berichterstatterin des Gesetzentwurfs. In der nächsten Ausschusssitzung sollen die Änderungen beschlossen und dann dem Staatsrat zur erneuten Prüfung vorgelegt werden. Was dann geschehe, „weiß niemand. So wie wir auch nicht wissen, ob überhaupt noch etwas geschieht“, so Scholtes in Anspielung auf mögliche Neuwahlen.

Auch ohne Neuwahlen droht wieder Ärger: Denn ob die neue Formulierung tatsächlich mehr Klarheit bringen wird, ist keineswegs sicher. Minister Bilgten hatte seinerzeit mit dem (nationalen) bildungspolitischen Ziel argumentiert, mehr Luxemburgern den Zugang zur Uni ermöglichen zu wollen – und war gleichwohl gescheitert. Es war Premierminister Jean-Claude Juncker (CSV), der in seiner Erklärung zur Lage der Nation 2009 versprach, anstatt die Familienzulagen global zu erhöhen, im darauf folgenden Jahr Dienstleistungsschecks einführen zu wollen. Die Schecks, so die Lesart, waren Teil einer verstärkt selektiven So-zialpolitik, die die Staatskasse von finanziellen Belastungen befreien sollte. Die amtliche Internetseite guichet.lu führt die Leistung als Maßnahme, die „vor allem die (Wieder-)Eingliederung der Eltern auf dem Arbeitsmarkt erleichtert und es ihnen ermöglicht (...), Berufsleben und elterliche Pflichten besser miteinander in Einklang zu bringen“.

Ungemach droht außerdem seitens des Staatsrats. „Le fait que les chèques service d’accueil sont en réalité payés directement aux préstataires ne saurait pas aux yeux du Conseil d’èÉtat être retenu comme argument pour éviter une qualification de prestation familiale“, warnte das Gremium in seinem März-Gutachten und verwies auf eine weitere Entscheidung der EuGH, bei der es um Zuschüsse aus der Krankenversicherung zur Altersrente ging. Ein niederländischer Rentner, der viele Jahre in Deutschland sozialversichert beschäftigt war, hatte die Landesversicherungsanstalt Westfalen auf Zahlung von Zuschüssen aus der Krankenversicherung verklagt – und Recht bekommen. Generell, so mahnte der Staatsrat eindringlich, interpretierten die europäischen Richter in Luxemburg den Begriff der familienbezogenen Leistungen eher großzügig.

So müssen die Beamten aus Familien- und Finanzministerium weiter bangen. Im Herbst soll das neue Gutachten des Staatsrats vorliegen. Das Familienministerium verfügt über keinen juristischen Dienst, geschweige denn über Experten, die sich im europäischen Sozialrecht auskennen. Das sei der Grund, wird auf den Fluren des Ministe-riums gelästert, warum in den vergangenen Jahren mehrfach Gesetzentwürfe auf den Instanzenweg geschickt wurden, die juristisch lückenhaft waren. Erinnert sei an das Gesetz zum Office national de l’enfance, mit dessen Umsetzung Sozialarbeiter und kommunale Sozialämter heute noch ringen. „Das ist eine Katastrophe“, ärgert sich Josée Lorsché von Déi Gréng, in ihrer Gemeinde Bettemburg mit der Umsetzung der Regelungen befasst. Sie befürchtet mit der Reform der Kinderbetreuung noch mehr Bürokratie für die Gemeinden.

„Ich meine nicht, dass sie damit durchkommen“, ist Guy Thomas überzeugt, ohne allerdings die geplanten Änderungen konkret zu kennen. Der Rechtsanwalt, der vom OGBL beauftragt war, kritisiert die Politik: „Das ist ein Trend, den man in ganz Europa beobachten kann. Da versucht die Politik, auf dem Rücken der Grenzgänger zu sparen.“ Die Überlegung der Hochschulministerin, als Folge des EuGH-Urteils die Studienbeihilfen in Zukunft an die Bedingung zu knüpfen, dass ein Elternteil mindestens fünf Jahre in Luxemburg gearbeitet haben muss, sieht er übrigens skeptisch. „Ich fürchte, spätestens bei der nächsten Klage kassiert Luxemburg erneut eine Niederlage.“

Für die Koalition, durch die Krise der Institutionen ohnehin angeschlagen, bedeutet jede Niederlage vor dem Europäischen Gerichtshof ein beträchtlicher Imageschaden. Grenzgänger empören sich in Internetforen und Blogs darüber, dass der Luxemburger Staat zwar ihre billige Arbeitskraft nutzen möchte, aber nicht bereit sei, dafür fair zu zahlen. „Luxemburg hat nie eine Beschäftigungspolitik aus einem Guss gemacht, sondern sich stets von einer provisorischen Lösung zur nächsten gehangelt“, kritisiert Mil Lorang vom OGBL. Seines Wissens lägen seiner Gwerkschaft noch keine Beschwerdefälle wegen der Dienstleistungsschecks vor, so der Pressesprecher. „Aber das kann sich ändern.“

Ines Kurschat
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