Eine positive bibliothekspolitische Evolution bahnt sich endlich an

Vom Bücherschrank zur Gemeindebibliothek

d'Lëtzebuerger Land vom 09.06.2023

Am 1. Juli 2013 begann in Esch/Alzette die Invasion der öffentlichen Bücherschränke („Den Escher Bicherschaf“) im Großherzogtum. Zehn Jahre später wird in zwei Rahmenprogrammen zu den Gemeindewahlen 2023 für Bücherschränke geworben: von DP und ADR. Der Pressepräsenz seit 2013 nach zu urteilen, könnte man mittlerweile von einem Klassiker sprechen. Bücherschränke sind populäre sozialromantische Gebrauchtbücherentsorgungsboxen. d’Land warnte im Frühjahr 2017 erstmals und bisher einmalig vor den rechtlichen Gefahren, die von unzureichend kontrollierten Bücherschränken ausgehen: Vertreibt ein Anonymus pornografische, rassistische oder revisionistische Bücher über diese potentiellen Giftschränke im öffentlichen Raum, so versteht das Strafgesetzbuch (Artikel 383 und 457) keinen Spaß (d’Land, 28.4.2017)

Vielleicht lohnt es sich doch auf qualitativ besser zusammengesetzte öffentliche Bibliotheken (ÖB) zurückgreifen. Wenn ein Zwergstaat wie Luxemburg jedoch im Jahre 2023 zwei- bis dreimal weniger öffentliche Bibliotheken besitzt als Ostbelgien, so hat der am 22. April 2010 im Parlament von Mil Majerus benutzte Begriff „Entwécklungsland“ nichts an Aktualität verloren. Dabei verteilen sich in der deutschsprachigen Gemeinschaft 37 Bibliotheken auf nur einem Drittel der Fläche des Großherzogtums. Staatliche Förderung und kommunale Akteure zur Schaffung von Gemeindebibliotheken zu animieren, war das im Juli 2007 Ziel eines Gesetzesvorschlags (Nr. 5743) zur Gründung einer Bibliotheksberatungsstelle. Marco Schanks Initiative aber war wohl zu fortschrittlich. Das CSV-Kulturministerium plante überraschenderweise „etwas Anderes“. Es kam schließlich zur Loi du 24 juin 2010 relative aux bibliothèques publiques. Insbesondere der Bibliothekarverband Albad sah ein klares Scheitern voraus. Dazu kam es auch. Bereits drei Jahre später, nach der in Gesetzesartikel 23 vorgesehenen Übergangsphase, dämmerte es jeder vernunftbegabten Person auf ministerieller Ebene, dass etwas schiefgelaufen war. Seit 2010 ist die Anzahl der ÖB im Lande sogar geschrumpft.

Deshalb sah das Regierungsprogramm 2018-2023 zum ersten Mal eine Überarbeitung des „autoritärsten Bibliotheksgesetzes der Europäischen Union“ (Jukka Relander, Eblida-Präsident, in Luxemburg am 5. November 2015) vor. Irgendwie verschlief das Kulturministerium dieses Programmelement seit 2018 fast völlig. Dann zauberte wunderbarerweise eine höhere redaktionelle Macht im Oktober 2020 im Kulturentwicklungsplan (KEP) urplötzlich eine allerletzte Zusatzmaßnahme Nr. 64 hervor: „Réformer la loi du 24 juin 2010 relative aux bibliothèques publiques“. Es dauerte freilich zwei weitere Jahre, bevor vom 24. Mai bis zum 30. September 2022 eine „Consultation publique sur la loi relative aux bibliothèques publiques“ stattfand.

Nun hätte die Auswertung dieses öffentlichen Befragungsprozesses in gewohnt aussitzender Weise bis zu den Kammerwahlen am 8. Oktober 2023 dauern können. Allerdings hakte der DP-Abgeordnete Gusty Graas, Präsident des Verbandes der öffentlichen Bibliotheken ULBP, mit einer Erweiterten parlamentarischen Anfrage (Nr. 162) nach. Daraufhin wurde erstmals in der Geschichte am 22. November 2022 im Parlament die Effektivität, sogar Existenz der staatlichen Fahrbibliotheken in Frage gestellt. Ein Novum! Denn der konsequente Bücherbus-Abbau begann in Frankreich 1978, ausgerechnet im Bicherbus-Einführungsjahr in Luxemburg. Die Kulturministerin sprach von „Reflexiounen“. Könnte ein Regierungs-Bibliobus, dessen Bücher von Regierungspersonal ausgesucht und zur Verfügung gestellt und auf nichtstaatlichem, nämlich kommunalem Gebiet würde, etwa ein Problem darstellen? Tut er! In einer Demokratie jedenfalls, in der Regel.

In derselben Parlamentssitzung kündigte die Kulturministerin, spät und gezwungener Weise unter Druck, ein propagandistisches Arsenal an fünf Maßnahmen auf einmal an: 1) eine interne Analyse des Conseil supérieur des Bibliothèques (CSB); 2) einen „état des lieux précis et complet“; 3) einen Workshop; 4) einen Gesetzes-Vorentwurf und 5) spezielle assises nur für Bibliotheken. Darauf folgte tatsächlich ein Gutachten des CSB, das dem Kulturministerium am 28. März 2023 zugestellt wurde. Dieses fehlerhafte Gutachten sowie sämtliche Antworten von Verbänden und Einzelpersonen (!) während des Befragungsprozesses sind bis heute nicht öffentlich zugänglich. Im Workshop am 25. April 2023 beschränkte sich eine stellvertretende CSB-Sprecherin sicherheitshalber auf offene Fragen einiger teilnehmender Akteure. Eine ehrliche intellektuelle Synthese galt als unerwünscht.

Falls der angekündigte „état des lieux précis et complet“ wirklich im Workshop am 25. April von zwei Statistikerinnen des Kulturministeriums vorgestellt wurde, so ging diese Aufgabenstellung ziemlich daneben. Die Landschaft der öffentlichen Bibliotheken nur auf die vom Ministerium durch ein realitätsfernes Bibliotheksgesetz „anerkannte“ Entitäten (bibliothèques agréées) zu beschränken, veranlasste selbst den Direktor der Nationalbibliothek Claude Conter zu einer späteren Richtigstellung. Eine Benutzung des luxemburgischen Bibliotheksführers 2020 (6. Auflage) hätte geholfen.

Der Titel des Workshops hieß offiziell „Soutien public aux bibliothèques“. Es fehlten bei der Debatte dennoch von fünf Bibliothekstypen die Vertreter der Hochschul- und Schulbibliotheken (Grund- und Sekundarschule). Dies sind zusammengenommen rund 200 Bibliotheken. Trotzdem geisterte die Idee eines allumfassenden Bibliotheksgesetzes, einer „Loi générale des bibliothèques“ umher. Wie zu Zeiten totalitärer Systeme, als alle vom Regime zum Leben berechtigten Bibliotheken „praktischerweise“ einem einzigen Träger, nämlich dem Staat gehörten. Wie es bibliothekshistorisch hierzulande von 1940 bis 1944 der Fall war. Manche dieser heute ziemlich substanzlosen Gesetze existieren vor allem in Ländern des früheren Ostblocks weiter.

Zum extremistischen Gedankengut gehört das Merkmal der Planwirtschaft dazu. Die leider von Mitakteuren ab 2007 allein agierend gelassene, fachlich unqualifizierte Autorin des 2010-er Bibliotheksgesetzes gehörte zu einer kommunistischen Richtung, wie sie selbst am 17. November 2019 im Radio 100,7 zugab. Dies erklärt die allmächtige Rolle des Staates, unter anderem die Möglichkeit, dass der Staat (sprich die jeweilige Regierung) per Bibliotheksgesetz (Art. 5) über die Zusammensetzung der Bestände nichtstaatlicher, jedoch vom Staat subventionierter Bibliotheken verfügen darf. d’Land hatte am 2. April 2013 darüber berichtet. Bildlich gesprochen: Von 2010 bis 2013 konnte die Regierung per Bibliotheksgesetz die Anschaffung schwarz-roter Bücher in ÖB verordnen; seit 2013 und bis heute können es blau-rot-grüne Bücher sein.

Unter Planwirtschaft kann in Demokratien in gewisser Weise auch die Landesplanung fallen. Diese Möglichkeit fand auch im Workshop Gehör: Müssten „Regionalbibliotheken“ in 13 CDA, „centres de développement et d’attraction d’importance régionale“ (laut Programme directeur von 2023 zur Landesplanung) nicht genügen? Gleichzeitig widersprach dies jedoch der während der Debatte angeführten modernen Maximal-15-Minuten-Entfernung-Regelung. Oder andersherum gefragt: Besitzen Vianden (das kein CDA mehr sein soll) oder Eschdorf überhaupt noch ein Recht auf eine Bibliothekseinrichtung? Bemerken wir, dass die einzige hierzulande existierende „Bibliothèque régionale“ sich in Düdelingen befindet, deren gigantische regionale Ausstrahlung seltsamerweise bereits an der Stadtgrenze haltmacht. Ein Blick ins Wörterbuch offenbart: der Möchtegern-Großstaat-Luxemburger (unter anderem dank RTL) übersetzt „Géigend/Gegend“ wohlwollend mit dem französischen Terminus „région“. Dabei meint er eigentlich „um die Ecke“. Zufällig befindet sich die Düdelinger Stadtbibliothek „au coin“, an der Ecke. So scheint im Ländle alles seine Ordnung zu haben.

Ob ein Gesetzes-Vorentwurf und spezielle assises nur für Bibliotheken noch vor den Kammerwahlen folgen werden, darf man bezweifeln. Denn während der Selbstbeweihräucherungsveranstaltung, dem Workshop am 25. April, stellte sich heraus, dass selbst die Luxemburger Bibliothekare keinen Zukunftsplan haben und sich mit der gegenwärtigen Situation in einfallsloser Art und Weise zufriedengeben. Einnisten in der Gemütlichkeit scheint zum Klischee des Bibliothekarberufs zu gehören. Denn solange staatliche, in braver Regelmäßigkeit gezahlte Subventionen für, im internationalen Vergleich, Dorfbibliotheken völlig unnötige und überbewertete Erschließungsarbeiten (Katalogisierung und Verschlagwortung) mit Hilfe einer staatlich vorgeschrieben komplizierten Bibliothekssoftware (selbst zu kompliziert für staatliche Bibliothekare), vor allem mit staatlicher Personalkostenübernahme (No-Go in anderen bibliotheksentwickelten Ländern) finanzieren, ist jedes kritisches Hinterfragen über Sinn und Unsinn unerwünscht. „Mit vollen Hosen ist gut stinken“ – ein Sprichwort, das zur Bequemlichkeit passt. Geld scheint immer noch massiv vorhanden und Fehlinvestitionen bleiben im Luxemburger Bibliothekswesen weiterhin an der Tagesordnung.

Auch wenn sich manche hier angeführten Beobachtungen nach weiterem Stillstand anhören, ist dennoch eine positive Neuorientierung zu beobachten. Nach dem Motto „Einsicht ist das erste Loch im Wasserkopf“ gibt es eine allgemeine Einigkeit über verschiedene Punkte, vor allem: das 2010-er Bibliotheksgesetz gehört eindeutig überarbeitet, wenn nicht sogar abgeschafft.

Zur Zukunft der ÖB zitierte während des Workshops Claude D[ario] Conter indirekt den US-amerikanischen Bibliotheksphilosoph R[ichard] David Lankes: „Bad libraries build collections, good libraries build services, great libraries build communities.“ Das verstanden leider nur die wenigsten. Deshalb hier die Auflösung: Schlechte Bibliotheken, die nur auf reine Bücherbestände aufgebaut sind (Negativbeispiel: Pfarrbibliothek vor 1970), sind dem Untergang geweiht. Allerdings stellt diese ÖB-Vorstellung das vorherrschende imaginäre Modell für 99 Prozent der Lokalpolitiker unseres Landes dar. Diese Bibliotheksform haben sie in ihrer Kindheit einmal mit Oma, Mutter oder der Grundschulklasse besucht. Sie kennen nichts Anderes. Gute, sprich moderne Bibliotheken bieten Dienstleistungen an. Das reicht von Leseförderungsaktivitäten bis zu einer Vielfalt kommunaler Services (Potenzialauflistung: d’Land, 24.4.2020). In großartiger (great) Weise besteht die maximal erreichbare gesellschaftliche Akzeptanz und Verankerung einer ÖB darin, dass sie aus ihrer kommunalen Gemeinschaft einfach nicht mehr wegzudenken ist.

Schließlich kann glücklicherweise festgestellt werden: Trotz einiger Wahlprogramme seit 2013 fand die Förderung von Bücherschränken bisher keinen Eintrag in die hiesigen Regierungsprogramme. Wie könnte dieser allgemein positive bibliothekspolitische Wandel weitergehen? Auf jeden Fall demokratischer als bisher. Indem etwa eine gezielte staatliche Förderung zur Gründung von Gemeindebibliotheken geschaffen wird – und die ÖB dabei die absolute kommunale Freiheit zur Erschließung der Bestände erhält: durch Benutzung eines vereinfachten Regelwerks, wie zum Beispiel die ehemaligen Regeln für die alphabetische Katalogisierung für öffentliche Bibliotheken (RAK-ÖB). Dazu kommen: freie Auswahl der Software, Bestimmung der Öffnungszeiten, der Bücherauswahl, und so weiter. Schluss mit jeder unsinnigen staatlich verordneten Planwirtschaft!

„Quand on nous demandera compte de notre gestion gouvernementale, nous montrerons nos bibliothèques“, so Bildungsminister und Nationalbibliotheksleiter Pierre Frieden am 29. März 1955 im Parlament. Das Originalzitat von Anatole de Monzie lautet: „Quand la postérité nous demandera compte de notre activité civilisatrice, … “ Die Chancen im Bereich Zivilisationsweiterentwicklung stehen seit 1945 gar nicht so schlecht. Denn vermehrt enthalten die Rahmenprogramme zu den Kommunalwahlen 2023 das „Upgrade“ der Bücherschränke, nämlich die Schaffung beziehungsweise Förderung von Gemeindebibliotheken. Unter „vermehrt“ sind folgende fünf Parteien zu nennen: DP (Kinderbibliotheken), Déi Gréng, Déi Lénk, ADR und Fokus. Eigentlich decken diese Parteien auch ohne die ganz Großen, CSV und LSAP, das gesamte gesellschaftliche Ideologiespektrum ab. Das ist doch erfreulich. Jetzt heißt es abwarten. Was werden die Wahlprogramme der Parteien für die Kammerwahlen am 8. Oktober wohl aufbieten?

Jean-Marie Reding
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