Die Schweizer wollen Weltmeister im Langsamverkehr werden

Vorwärts mit Muskelkraft

d'Lëtzebuerger Land vom 26.05.2011

Über „Nachhaltigkeit“ und „sanftes Reisen“ wird ja viel geredet. Als das Konzept von Schweiz Mobil vor zehn Jahren bei einem Tourismusgipfel in Chamonix vorgestellt wurde, hörte kaum jemand hin. Dabei meinen die Eidgenossen das ernst: Ein „weltweit einmaliges Netzwerk für den Langsamverkehr, insbesondere für Freizeit und Tourismus“, soll die Schweiz als „Top-Destination für aktive, Ressourcen schonende Natur- und Landschaftserlebnisse positionieren“.

Die Idee stammt von drei bärtigen Hippies: Markus Capirone, Thomas Ledergerber und Martin Utiger eröffneten im Jahr 1990 in Olten ein „Velobüro“. Die begeisterten Tourenfahrer machten sich für bequeme und sichere Radwege stark. Die Vorstellung, dass Hotelgäste mit dem Fahrrad vorfahren könnten, erschien damals noch gewöhnungsbedürftig. Trotzdem brachte hartnäckige Lobby-Arbeit den Schweizer Tourismus-Verband dazu, zusammen mit dem Velobüro die Stiftung Veloland Schweiz zu gründen. Im Jahr 1998 wurden die „Mittelland-Route“ vom Bodensee zum Genfersee und acht weitere Fernradwege mit insgesamt rund 3 000 Kilometer Länge eingeweiht.

Von den Radlern wollte sich der Verband Schweizer Wanderwege nicht überholen lassen. Immerhin sind in der Schweiz schon seit 1934 über 60 000 Kilometer Wanderwege mit einheitlichen gelben Wegweisern ausgeschildert. Fußgänger und Radfahrer rauften sich dann zusammen und gründeten die Stiftung Schweiz Mobil. Deren Zweck ist die „Förderung von auf Muskelkraft basierenden Bewegungsaktivitäten aller Art“ und die „Verwirklichung von Routennetzen zum Langsamverkehr“. Gleichzeitig entdeckte auch die Politik das Thema und beschloss, den „Langsamverkehr zu einem gleichberechtigten dritten Pfeiler des Personenverkehrs zu entwickeln“.

Das Bundesamt für Straßen erarbeitete die Norm SN 640829 für die landesweit einheitliche Signalisation des Langsamverkehrs. Ihr entsprechend wurden in der ganzen Schweiz über 100 000 neue Wegweiser angebracht. Nun stehen einstellige Nummern für nationale Routen, zweistellige für regionale und dreistellige für lokale Wege. Beispielsweise ist der Wanderweg Nr. 1 die spektakuläre Via Alpina, die von Vaduz nach Montreux über 14 Alpenpässe führt. Die Veloroute Nr. 2 geht von Graubünden nach Basel und wird demnächst ein Abschnitt des neuen europäischen Radwegs, der ab 2013 die Quelle des Rheins mit seiner Mündung verbinden soll.

Schweiz Mobil ist für die Qualitätskontrolle der schönsten und besten Fernstrecken zuständig: 9 000 Kilometer Wanderwege (gelbe Schilder mit grünen Nummern), 9 000 Kilometer Radwege (rot-blaue Markierung), 4 500 Kilometer Mountainbike-Strecken (ocker) und 1 100 Kilometer Skaterwege (violett). Die Signalfarbe für 330 Kilometer Kanu-Routen ist Türkis, wobei allerdings nur die Wasserungsstellen für die Boote ausgeschildert sind. Zum Vergleich: In der Schweiz gibt es knapp 1 800 Kilometer Autobahnen und 5 000 Kilometer Eisenbahnen. Die Routen des Langsamverkehrs sind in Tages-etappen eingeteilt, deren Endpunkte jeweils gut mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar sind.

Die verschiedenen Strecken sind „konsolidiert“, das heißt, durch die Raumplanung langfristig gesichert und abgestimmt mit acht Bundesstellen, mit dem ebenfalls teilnehmenden Fürstentum Liechtenstein, 80 kantonalen Ämtern, 1 800 Gemeinden und rund 30 Interessensverbänden. Mitglieder von Schweiz Mobil sind nicht nur Lobbyisten des Langsamverkehrs, etwa Fußverkehr Schweiz, Pro Velo und der Rollsport-Verband, sondern auch zum Beispiel Bahn- und Busunternehmen, Swiss Olympic, Hotellerie- und Gastro-Verbände, Umweltorganisationen und der Verein Via-Storia, der sich für den Erhalt historischer Verkehrswege einsetzt.

Der grundlegende Aufbau des Netzes für schweißtreibende Fortbewegung kostete in den Jahren 2004 bis 2008 rund 10 Millionen Euro. Den Großteil davon finanzierte der Staat; zehn Prozent übernahmen Sponsoren, etwa die Supermarktkette Migros und die Krankenversicherung Sanitas. Die jährlichen Betriebskosten von Schweiz Mobil betragen rund 1,5 Millionen Euro, die zu gleichen Teilen von Bund, Kantonen und Privatunternehmen kommen. Für den Unterhalt der Routen und ihren weiteren Ausbau sind die Kantone zuständig, die dafür zum Beispiel Mittel der Schwerverkehrsabgabe einsetzen. Allein in das Radwegnetz wurden im vergangenen Jahr knapp neun Millionen Euro investiert.

Das Geld ist nicht nur aus ökologischen Gründen gut angelegt, findet Schweiz Mobil. Die Stiftung schätzt, dass der gesamte Langsamverkehr rund 1,4 Millionen Übernachtungen und einen Jahresumsatz von 390 Millionen Euro generiert. Etwas genauer kennt man den wirtschaftlichen Effekt der Radwege, denn die Velofahrer werden an 17 Stellen von automatischen Zählanlagen erfasst und immer wieder mit Fragebögen traktiert. Demzufolge wurden 2009 in der Schweiz 4,8 Millionen Tagesausflüge und 230 000 Mehrtagesreisen mit dem Fahrrad unternommen. Die Radler gaben rund 117 Millionen Euro aus, davon die Hälfte für Verpflegung und ein Viertel für Übernachtungen.

Vermarktet werden die Langsam-Netze von der Interessengemeinschaft Schweiz Mobil, die von Ruedi Jaisli, einem Pionier des Abenteuer-Tourismus, gegründet wurde. Unter dem Namen Swiss Trails wurde mit über 40 Reiseveranstaltern ein System aufgebaut, das Zimmerreservierung, Gepäcktransport, geführte Gruppenreisen und eine mehrsprachige Helpline anbietet. Die 1 200 zertifizierten Partnerbetriebe bieten Übernachtungsmöglichkeiten auch für eine Nacht, Waschmaschinen für Kleider, Velo-Garagen und Werkzeug für einfache Reparaturen. Besucher aus dem nicht so finanzstarken Euro-Raum zieht es dabei weniger in die 300 Vier-Sterne-Hotels, sondern eher in Jugendherbergen oder in die unter dem Slogan „Schlafen im Stroh“ angeschlossenen Bauernhöfe.

Für die Schweizer Verlage ist der langsame Verkehr wahrscheinlich weniger profitabel. Seit 2008 wurden zwar über 100 000 Routen- und Übernachtungsführer abgesetzt, die Verkäufe sind jedoch rückläufig. Der Grund dafür dürfte das viersprachige Internetportal von Schweiz Mobil sein, das im vergangenen Jahr 2,4 Millionen Besucher anzog: Die interaktiven Landkarten sind mit den Online-Fahrplänen von 24 000 Haltestellen verlinkt, können auf den Maßstab 1:10 000 vergrößert und kostenlos ausgedruckt werden. Per Mausklick lassen sich auch Unterkünfte, Läden und Sehenswürdigkeiten einblenden; bei der Gestaltung wurde sogar an farbfehlsichtige Nutzer gedacht. In der Regel sind aber die Wegweiser ohnehin so gut, dass man auch ohne Infomaterial ans Ziel kommt.

Laut Verkehrsstatistik entfällt trotzdem immer noch mehr als die Hälfte aller Fahrten auf Privatautos. Schließlich gibt es in der Schweiz 514 Wagen pro 1 000 Einwohner; über 80 Prozent aller Haushalte haben einen PKW, ein Drittel sogar zwei Autos und mehr. Immerhin ist aber der Anteil des motorisierten Individualverkehrs rückläufig. Die Statistiker haben ausgerechnet, dass derzeit knapp 90 Milliarden Personenkilometern des Autoverkehrs rund 7,5 Milliarden Personenkilometer des Langsamverkehrs gegenüberstehen.

Der zunehmende Andrang auf Fuß- und Velowegen bereitet allerdings nicht immer Freude. Besonders entlang der Seen kommen sich Wanderer, Radfahrer und Skater schon mal in die Quere. Schweiz Mobil versucht, mit Handbüchern und Planungshilfen für eine friedliche Koexistenz zu sorgen. Das Bundesamt für Straßen stellte unlängst klar, dass Trottinette, Rollschuhe und Rollbretter „fahrzeugähnliche Geräte (fäG)“ sind, die auch auf Gehsteigen und in Fußgängerzonen unterwegs sein dürfen.

Für neue Moden ist Schweiz Mobil aufgeschlossen: Als erste Strecke besonders für Elektro-Fahrräder wurde Radweg Nr. 99 durch den Kanton Bern trassiert. Dagegen graut den Verkehrsplanern schon vor dem nächsten Winter: Es gibt rund 240 Schneeschuh-Routen, die bisher noch nicht in das einheitliche System des Langsamverkehrs integriert werden konnten. Verschiedene Organisationen haben dafür ganz unterschiedliche Signalisationssysteme entwickelt, nämlich in den Farben blau, rot, schwarz und lila. Das könnte durchaus ein Problem werden: dass man vor lauter Wegweisern die Schweiz nicht mehr findet.

www.schweizmobil.ch.
Martin Ebner
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